Herausgegeben von Wolfgang Eckhardt
2. Auflage
Karin Kramer Verlag, Berlin 2007
240 S.
Der Konflikt zwischen Marx und Bakunin markiert ein entscheidendes Ereignis in der politischen Ideengeschichte. Während die von Marx beeinflußte sozialdemokratische Strömung zentralistische Organisationsformen, die Gründung nationaler Arbeiterparteien und die Eroberung der politischen Macht propagierte, waren die von Bakunin unterstützten Basisbewegungen föderalistisch und pluralistisch orientiert. Die Wege gingen daraufhin auseinander: Die Parteipolitik trennte sich von emanzipatorischen Basisbewegungen. In der Ersten Internationale (1864-1877) wurde dieser Konflikt erstmals ausgetragen: Die unterschiedlichen Richtungen fanden in Marx und Bakunin ihre stärksten Exponenten – ihre Ideendifferenz wirkt bis heute fort.
In der Reihe Michael Bakunin – Ausgewählte Schriften wird der Konflikt mit Marx in den Bänden 5 und 6 dokumentiert. Band 5 enthält neben einer ausführlichen Einleitung des Herausgebers Quellen und Dokumente dieser Auseinandersetzung bis zum Jahr 1870, darunter Materialien zur Erbrechtsdebatte auf dem Basler Kongreß der Internationale sowie sämtliche überlieferte Briefe (und Widmungen) Bakunins an Marx.
Das ist der wesentliche Punkt, der uns absolut von allen Politikern und bürgerlich-radikalen Sozialisten trennt. Sie setzen auf die Politik und den Staat, die sie reformieren und umgestalten wollen; unsere Politik hingegen, die einzige, die wir anerkennen, besteht in der völligen Abschaffung des Staates und der Politik, die seine notwendige Erscheinungsform ist.
(Bakunin)
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Vorbemerkung
- Briefe und Widmungen Bakunins an Marx:
- Widmung vom Dezember 1847
- Briefentwurf vom August 1848
- Brief vom 27. Oktober 1864
- Brief vom 7. Februar 1865
- Brief vom 22. Dezember 1868 (Beilage: Allianz-Programm vom September / Oktober 1868)
- Widmungsvermerk vom Dezember 1868
- Auseinandersetzung zwischen Marx und Bakunin über das Erbrecht:
- Karl Marx: Rede über das Erbrecht im Generalrat der Internationale. Mit Diskussionsbeiträgen von George Milner, Benjamin Lucraft, John Hales, Hermann Jung und John Weston (20. Juli 1869)
- Michael Bakunin: Kommissions-Bericht über das Erbrecht (August 1869)
- Michael Bakunin, Désiré Brismée, Félix Eugène Chemalé, César De Paepe, Johann Georg Eccarius, Wilhelm Liebknecht, André Murat, Albert Richard und Eugène Varlin: Diskussion und Abstimmung über das Erbrecht auf dem Basler Kongreß der Internationale (10. September 1869)
- Michael Bakunin: Rede über das Erbrecht auf dem Basler Kongreß der Internationale (unautorisierte Mitschrift) (10. September 1869)
- Zweiter Kongreß der Romanischen Föderation der Internationale: Resolutionen zur Haltung der Internationale gegenüber den Regierungen:
- Resolution des Minderheitskongresses (Genfer Richtung) (5./6./7. April 1870)
- Resolution des Mehrheitskongresses (Jura-Richtung) (6. April 1870)
Anhang:
- Eugène Hins an Cowell Stepney, 21. Januar 1870
- Cowell Stepney an Eugène Hins, 27. Januar 1870
Anmerkungen
Personen- und Periodika-Register
Nach den in Richtung Belgien und Deutschland gesandten anti-bakunistischen »Mitteilungen« wandte sich Marx nun nach Frankreich, wo sich zu diesem Zeitpunkt eine weitere Schlüsselfigur der kommenden Auseinandersetzungen aufhielt: Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue.
Lafargue (1842-1911),336 geboren in Santiago de Cuba, kam mit neun Jahren nach Frankreich, besuchte die Gymnasien in Bordeaux und Toulouse und begann ein Medizinstudium an der Pariser Universität. Aufgrund seiner politischen Aktivitäten als Mitorganisator des Internationalen Studentenkongresses in Liège (Oktober / November 1865) wurde er vom Universitätsstudium ausgeschlossen und siedelte nach London über, wo er sein Medizinstudium beendete und am 6. März 1866 in den Generalrat der Internationale aufgenommen wurde.337 Hierdurch kam Lafargue mit Marx in näheren Kontakt und verliebte sich in dessen Tochter Laura – die beiden heirateten im April 1868 und zogen bald darauf nach Paris; hier hoffte Lafargue, seinen französischen Studienabschluß nachzuholen, und versuchte, mit journalistischen Arbeiten Geld zu verdienen. Daneben besuchte er die Versammlungen der Internationale in Paris und hielt seinen Schwiegervater in London über die Ereignisse auf dem laufenden. So berichtete er zum Beispiel am 18. April 1870 begeistert von der Föderationsgründung der Pariser Sektionen der Internationale, an der etwa 1200 Personen teilgenommen hatten.338 Als Marx entdeckte, daß zu den Mitgliedern des neu gegründeten Pariser Föderalrats unter anderem Paul Robin gehörte, wies er Lafargue sogleich darauf hin,
daß in Eurem Komitee Robin, ein Agent Bakunins sitzt, der in Genf alles in seiner Macht stehende getan hat, um den Generalrat zu diskreditieren (er griff ihn in der ›Egalité‹ öffentlich an) und die Diktatur Bakunins über die Internationale Assoziation vorzubereiten. Er wurde speziell nach Paris geschickt, um sich dort im gleichen Sinne zu betätigen. Daher muß man diesen Kerl genau beobachten, ohne daß er eine Überwachung argwöhnt.
339
Diese Gelegenheit nutzte nun Marx, um auch gegenüber Lafargue – zum dritten Mal innerhalb weniger Monate – den ›Fall‹ Bakunin erneut aufzurollen. Dabei kann nicht verwundern, daß die bereits aus den vorangegangenen »Mitteilungen« bekannten Ausfälle gegen Bakunin fast unverändert wiederkehren. Auch gegenüber Lafargue wurde als Tatsache präsentiert:
égalisation des classesfür die Fortexistenz der Klassen eintreten wollen (Marx und Bakunin hatten beide diesen Ausdruck als
Schreibfehlerbezeichnet)343
erste Erfordernisder sozialen Revolution gehalten (Verballhornung des zweiten Punkts im Allianz-Programm)344
Die beiden zuletzt genannten Punkte stilisierte Marx sogar zu Bakunins Programm
hoch, das jedoch insgesamt aus drei Punkten bestehe. Erst mit dem als dritten Programmpunkt bezeichneten Thema bezog sich Marx in seiner Polemik gegen Bakunin auf eine neue und inhaltlich relevantere Frage: Die Debatte um politisch-parlamentarischen oder sozialrevolutionären Sozialismus, die eben erst zur Spaltung der Romanischen Föderation geführt hatte. Marx stellte Bakunins Standpunkt so dar:
3. Die Arbeiterklasse darf sich nicht mit Politik beschäftigen. Sie darf sich nur in Trade-Unions organisieren. Eines schönen Tages werden sie sich mittels der Internationale an die Stelle aller bestehenden Staaten drängen. Ihr seht, was für eine Karikatur er aus meinen Lehren gemacht hat! [...] Der Esel hat nicht einmal begriffen, daß jede Klassenbewegung als Klassenbewegung notwendigerweise immer eine politische Bewegung ist und war.
345
Tatsächlich hat Marx hier eher aus Bakunins Ideen eine Karikatur gemacht. Natürlich hat sich Bakunin stets mit Politik und politischen Bewegungen beschäftigt – nur zielte seine Tätigkeit nicht auf die Eroberung der politischen Macht. Auf dem ersten Kongreß der ›Friedens- und Freiheitsliga‹ erklärte Bakunin zum Beispiel in einer Rede, deren Text Marx zur Verfügung stand, da Bakunin sie ihm übersandt hatte:346
Meine Herren, für jeden, der Augen hat zu sehen, ist offenkundig, daß zur Stunde die Arbeiter Europas, die sich über alle künstlichen Grenzen der Staaten hinweg mehr und mehr in dieser großen Internationalen Arbeiterassoziation zusammenfinden, die, kaum geboren, bereits eine wahre Macht bildet, – es ist offenkundig, sage ich, daß die Arbeiter Europas fest entschlossen sind, die Politik in ihre eigenen Hände zu nehmen, selbst ihre Politik zu machen, das heißt, die Politik der Befreiung der Arbeit vom schweren und schmachvollen Joch des Kapitals. Jede andere Politik ist ihnen fortan fremd, mehr noch, sie betrachten aus gutem Grund als ihren Interessen feindlich und entgegengesetzt jede Politik, die sich ein anderes Ziel setzt als die vollständige, radikale, ökonomische Befreiung der Arbeiter.
347
Eine diese inhaltlichen Positionen Bakunins berücksichtigende Auseinandersetzung hat Marx auch in seiner ›Mitteilung‹ an Lafargue nicht unternommen – Marx faßte seine Anklagen gegen Bakunin vielmehr mit den Worten zusammen:
So ist es diesem verdammten Moskowiter gelungen, einen großen öffentlichen Skandal in unseren Reihen hervorzurufen, seine Person zur Losung zu machen, unsere Arbeiterassoziation mit dem Gift des Sektierertums zu infizieren und unsere Aktionsfähigkeit durch geheime Intrigen zu lähmen. [...] Ihr seid jetzt hinreichend informiert, um Bakunins Intrigen in unseren Pariser Sektionen entgegenwirken zu können.
348
Lafargue sondierte daraufhin die Stimmung in der Pariser Internationale, mußte jedoch in seiner Antwort an Marx bald darauf ernüchtert feststellen:
Ich habe mich mit mehreren Personen unterhalten und versucht, ihre Meinung über ihn [Bakunin] in Erfahrung zu bringen, ohne ihnen meine eigene zu verraten. Leider mußte ich feststellen, daß sie alle zu seinen Gunsten ausfielen. Ihn offen anzugreifen, ist demnach unmöglich. Denn für alle, die ihn kennen, ist er ein Repräsentant radikaler Ideen, während seine Gegner in der Schweiz Reaktionäre sind. Und der letzte Vorfall, der sich auf dem Romanischen Kongreß ereignet hat und über den die Solidarité, das Bakunin-Blatt, das derzeit überall in Paris verteilt wird, berichtet,349 ist dazu angetan, diese Vorstellung zu bestärken. Denn Bakunin hat zweimal darauf hingewiesen, daß man ihn habe ausschließen wollen, weil er den Atheismus vertrete.
350
So mußte Marx feststellen, daß auch die in Richtung Frankreich gesandte »Mitteilung« über Bakunin trotz des polemischen Aufwands nicht die erhoffte Rufschädigung Bakunins zur Folge hatte. Einzig die von Marx nach Deutschland gesandte ›Confidentielle Mittheilung‹ hatte euphorische Reaktionen ausgelöst – während ihm die zuvor nach Belgien gesandte Denunziation und Charakteristik Bakunins
sogar scharfen Widerspruch eingebracht hatte.351 Nach diesen Erfahrungen hat Marx keine ausführlichen brieflichen »Mitteilungen« über Bakunin mehr versandt.
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336 Über Lafargue (Abbildung auf S. 122) siehe Leslie Derfler: Paul Lafargue and the Founding of French Marxism 1842-1882. Harvard University Press, Cambride, London 1991.
337 Minutes, I, S. 169.
338 Paul Lafargue an Marx, [18. April 1870]. In: RGA, fond 21, opis’ 1, delo 267/1; englische Übersetzung: MECW, Band 43, S. 555-557. Vgl. auch Archer, a.a.O. (Anm. 313), S. 191-192.
339 Marx an Paul und Laura Lafargue, 19. April 1870. In: MEW, Band 32, S. 673; Original: MECW, Band 43, S. 489.
340 Siehe oben, Kapitel VII, S. 74. MECW, Band 43, S. 492; dt. MEW, Band 32, S. 676.
341 Siehe oben, Kapitel XI, S. 102. MECW, Band 43, S. 492; dt. MEW, Band 32, S. 677.
342 Siehe oben Kapitel XI, S. 101-102. – [...] he [Bakunin] commenced to attack us publicly
(MECW, Band 43, S. 492; dt. MEW, Band 32, S. 676). Am Anfang des Briefes hatte Marx selbst noch festgestellt, Robin habe den Generalrat in der Égalité angegriffen (MECW, Band 43, S. 489; dt. MEW, Band 32, S. 673).
343 Siehe oben, Kapitel II, S. 21-24. MECW, Band 43, S. 490; dt. MEW, Band 32, S. 674-675. In Wirklichkeit war die Formulierung égalisation des classes
im zweiten Punkt des Allianz-Programms bereits ein Jahr zuvor geändert worden (siehe oben, Kapitel II, S. 24-25); Marx selbst wies an anderer Stelle des Briefes auf die vollzogene Programmänderung hin (MECW, Band 43, S. 491; dt. MEW, Band 32, S. 676).
344 Siehe oben, Kapitel VI, S. 49-51. MECW, Band 43, S. 490; dt. MEW, Band 32, S. 674.
345 MEW, Band 32, S. 675; Original: MECW, Band 43, S. 490-491.
346 Siehe vorliegenden Band, S. 161. – Von Marx’ Lektüre dieser Reden Bakunins zeugt seine Aussage auf einer Kommissionssitzung der Londoner Konferenz am 18. September 1871 (protokolliert von Engels: MEGA, I 22, S. 297).
347 Discours de Bakounine, a.a.O. (Anm. 48), S. 212. Vgl. auch oben, Kapitel V, S. 47-48.
348 MEW, Band 32, S. 677-678; Original: MECW, Band 43, S. 493.
349 Gemeint ist das in den Nr. 1-4 der Solidarité erschienene Protokoll des Kongresses (siehe oben, Anm. 324).
350 Paul Lafargue an Marx, [ab dem 20. April 1870]. In: SAPMO, Bestand Marx-Engels, Signatur: SgY 31 / ME 7355; russische Übersetzung: Perepiska Karla Marksa, Fridricha Engel’sa i členov sem’i Marksa 1835-1871 gg. Izdatel’stvo političeskoj literatury, Moskau 1983, S. 472. – Ein paar Tage später informierte Laura Lafargue ihren Vater, daß Lafargue Marx’ Brief über Bakunin an Leo Frankel weitergegeben habe, da sich dieser am besten eigne, Robin Steine in den Weg zu legen
. Ferner werde Victor Jaclard die Beobachtung Robins übernehmen (ebd., S. 475).
351 Siehe oben, Kapitel X, S. 91-93.