Herausgegeben von Bernd Kramer und Wolfgang Eckhardt
Karin Kramer Verlag, Berlin 2007
278 S.
ISBN 978-3879563203
24,80 €
Der Almanach enthält unveröffentlichte Bakunin-Dokumente aus diversen Archiven sowie zahlreiche Essays und Studien, die ein breites Spektrum abdecken: Von Bakunins Beziehungen zu seiner Frau Antonija Kwiatkowska, Turgenev, Mickiewicz und den Brüdern Reclus, bis hin zu aktuellen Fragestellungen nach dem Stellenwert Bakunins in den Diskussionen des Postanarchismus.
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- Dokumente
Ich brauche Deine Nähe ... dadurch werde ich stärkerMichail Bakunin und seine Frau Antonija Kwiatkowska- Vier unbekannte Bakunin-Briefe. Gesammelt von Wolfgang Eckhardt
- Bakunin an Ivan Sergeevič Turgenev, 1. Januar 1862
- Bakunin an Carl August Röckel, [Mitte Juni 1862]
- Bakunin an Feodor Streit, 2. Juli 1862
- Bakunin an Augustus Paget, [29. März 1863]
- Erinnerungen
- Wenzel Ernst: Bakunin war mein nächster Zellennachbar...
- Rudolf Franz: Tschechische Bakunin-Forschung. Erinnerungen an Václav Čejchan
- Michail Covma: In Erinnerung an Natal’ja Pirumova
- Zeitgenossen
- Antoni A. Kaminski: Bakunin und Adam Mickiewicz [russische Edition: Adam Mickevic i pol’skij romantizm v russkoj kul’ture. Nauka, Moskau 2007, S. 146-161]
- Marshall Shatz: Bakunin, Turgenev und Rudin
- Heiner M. Becker: Bakunin und die Brüder Reclus
- Philosophie
- Gabriel Kuhn: Bakunin vs. Postanarchismus
- Jürgen Mümken: Bakunin und die Autorität
- Bilder, Bücher, Manuskripte
- Jaap Kloosterman: Michail Bakunins Schriften in Amsterdam
- Wolfgang Eckhardt: Bibliografie selbständiger Veröffentlichungen der Bakunin-Primärliteratur in deutscher Sprache (Fortsetzung)
- Markus Henning: ›Von der Dresdner Mairevolution zur Ersten Internationale‹ von Wolfgang Eckhardt (Rezension)
- Reinhold Straub: Bakunin in der Genfer Internationale (1868-1869). Eine Annäherung an den fünften Band der ›Ausgewählten Schriften‹ Bakunins
- Bernd Kramer: Bakunin im künstlerischen Blickfeld
- Zugabe
- Bernd Kramer: Michael Bakunin 1849 in der Leipziger Gaststätte ›Zum goldenen Hahn‹
- Textnachweise
- Register
Die bisweilen Aufsehen erregenden Details von Bakunins Leben haben die Phantasie mancher Autorinnen und Autoren derart angeregt, daß ihre Einschätzungen und Hypothesen mitunter ins Spekulative abgleiten. Zu diesen oft recht mutwillig kommentierten Aspekten gehört auch Bakunins Beziehung zu seiner jungen Ehefrau Antonija: Friedrich Engels gab sich zum Beispiel überzeugt: Sibirien, der Bauch und die junge Polin haben den Bakunin zum perfekten Ochsen gemacht
,2 während eine gegen ihren Untersuchungsgegenstand voreingenommene Bakuninforscherin Antonija als »very pretty, but dull and somewhat stupid« beschrieb.3 Statt als Projektionsfläche für die Mutmaßungen von Zeitgenossen und Historikern sollte Antonija als eigenständige Person und wichtiger Faktor in Bakunins Leben wahrgenommen werden – hierzu möchte die vorliegende Skizze einen Beitrag leisten.
Nach knapp achtjähriger Kerker- und Festungshaft wurde Bakunin im März 1857 auf Befehl des Zaren nach Sibirien verbannt4 und im Folgemonat nach Tomsk deportiert. Dort verbrachte ich etwa zwei Jahre
, berichtete Bakunin später, und lernte eine liebe polnische Familie kennen, deren Vater Ksaverij Vasil’evič Kvjatkovskij [Ksawery Kwiatkowski] bei den Goldgruben beschäftigt ist. Eine Werst von der Stadt lebten sie in einem kleinen Häuschen
.5 Kwiatkowski entstammte einer verarmten katholischen Adelsfamilie aus dem Gouvernement Mogilev (Weißrußland)6 und war in den 1840er Jahren nach Sibirien gekommen, wo er bei den Goldminen (zunächst in der Firma Astaševs, später bei Benardaki) Arbeit fand. Mit seiner polnischen Frau Julia Kwiatkowska7 hatte er fünf Kinder: Jan, Aleksandr, Antonija, Sof’ja und Julija.
Ich begann sie täglich zu besuchen
, schrieb Bakunin weiter, bot mich an, die beiden Töchter [Antonija und Sof’ja] in französischer Sprache und anderem zu unterrichten, befreundete mich mit meiner Frau [Antonija], gewann ihr vollständiges Vertrauen – verliebte mich leidenschaftlich in sie, auch sie gewann mich lieb und so heiratete ich sie und bin bereits zwei Jahre verheiratet und vollkommen glücklich. – Es ist so gut, nicht für sich selbst, sondern für einen anderen zu leben, besonders wenn dieser andere eine liebe Frau ist – ich bin ihr völlig ergeben, sie aber teilt mit ganzem Herzen und all ihren Gedanken meine Bestrebungen. – Sie ist eine Polin, aber ihrer Überzeugung nach durchaus keine Katholikin, deshalb ist sie auch frei von politischem Fanatismus, sie ist eine slavische Patriotin.
8
Vor der Eheschließung war es nötig gewesen, die Bedenken des künftigen Schwiegervaters Ksawery Kwiatkowski aus dem Weg zu räumen, der für seine Tochter Antonija offenbar eine bessere Partie vorgesehen hatte (nach Bakunins Angabe einen Kreispolizeichef).9 Erst aufgrund der Fürsprache des Generalgouverneurs von Ost-Sibirien, Bakunins Cousin (zweiten Grades) Nikolaj Nikolaevič Murav’ev-Amurskij (1809-1881), stimmte Kwiatkowski der Eheschließung zu, da Murav’ev darauf verwiesen hatte, daß er sich für Bakunin einsetzen und sich sein Schicksal bald zum Bessern wenden werde.10 [...]
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1 In russischen offiziellen Dokumenten: Antonina Ksaver’evna Bakunina-Kvjatkovskaja.
2 Engels an Marx, 18. Dezember 1868. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 32. Berlin 1965, S. 237.
3 Aileen Kelly: Mikhail Bakunin. A Study in the Psychology and Politics of Utopianism. Oxford 1982, S. 146.
4 Vom Chef der Geheimpolizei, Fürst Vasilij Andreevič Dolgorukov, dokumentierter Entscheid Alexanders II. vom 19. Februar (3. März) 1857 (M. A. Bakunin: Sobranie sočinenij i pisem. 1828-1876. Hrsg. von Jurij M. Steklov. Band 4. Moskau 1935, S. 567; dt. Michael Bakunins Beichte aus der Peter-Pauls-Festung an Zar Nikolaus I. Gefunden im Geheimschrank des Chefs der III. Abteilung der Kanzlei der früheren Zaren zu Leningrad. Hrsg. von Kurt Kersten. Berlin 1926, S. 93). Hier und im folgenden werden das vorrevolutionäre Rußland betreffenden Datumsangaben nach dem julianischen Kalender angegeben, die Angabe nach dem im übrigen Europa gebräuchlichen gregorianischem Kalender ist in Klammern ergänzt.
5 Lettre à Aleksandr Ivanovič Herzen, 8 décembre 1860, S. 9. In: Bakounine: Śuvres complètes sur CD-ROM. Textes préparés à l’Institut international d’Histoire sociale. (Künftig zitiert: Bakounine CD-ROM). Amsterdam 2000.
6 Im Jahre 1808 war die Familie Kwiatkowski auf Beschluß der Adelsversammlung des Gouvernements Mogilev in das Genealogiebuch eingetragen worden, Ksawery selbst wird in Eintragungen vom 26. Januar (7. Februar) 1839, 5. (17.) Januar 1840 und 30. Juni (12. Juli) 1841 erwähnt (siehe B. G. Kubalov: Stranicy iz žizni M. A. Bakunina i ego sem’i v Sibiri. In: Sbornik Trudov Professorov i Prepodavatelej Gosudarstvennogo Irkutskogo Universiteta, Band 5, 1923, S. 132).
7 Vgl. über sie Bakunins Brief an seine Mutter vom 28. März (9. April) 1858 (Bakunin: Sobranie, a.a.O., S. 284; dt. in vorliegendem Almanach, S. 202) und Aleksandrina Bauler: M. A. Bakunin nakanune smerti. Vospominanija. In: Byloe. Žurnal posvjaščennyj istorii osvoboditel’nago dviženija, 2. Jg., Nr. 7/19, Juli 1907, S. 82.
8 Lettre à Aleksandr Ivanovič Herzen, 8 décembre 1860, S. 9. In: Bakounine CD-ROM.
9 Siehe Nr. 12. Vgl. auch James Guillaume: L’Internationale. Documents et Souvenirs. Band 1. Paris 1905, S. 108.
10 Vgl. Vjačeslav Aleksandrovič Dolžikov: M. A. Bakunin i Sibir’ (1857-1861 gg.). Novosibirsk 1993, S. 46.
Überlieferung: (a) Die Heirat von Antonija und Michail am 5. (17.) Oktober 1858 wurde im Kirchenbuch der Auferstehungskirche (Voskresenskaja Cerkov’) in Tomsk dokumentiert, das später im Archiv des Tomsker Geistlichen Konsistoriums (Duchovnaja Konsistorija) aufbewahrt wurde und heute als verschollen gilt. (b) Im Dezember 1877 wurde Antonija ein Auszug aus dem Kirchenbuch übersandt, der nur in Form einer Abschrift durch Max Nettlau überliefert ist (Max Nettlau: Notizen, Format 4°, S. 313-314, 382. Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam, Nettlau-Nachlaß). (c) Der vorliegende Kirchenbuchauszug (Erstveröffentlichung ‹Faksimile› auf S. 44) wurde am 12. (24.) Juni 1878 auf Anforderung der Polizei angefertigt, wie aus einem amtlichen Vermerk mit den Registrierungsnummern 3151 und 3152 am unteren Rand des Dokuments hervorgeht. (d) Im Jahre 1926 wurde ein formularähnlicher maschinenschriftlicher Auszug aus dem Kirchenbuch erstellt, der heute im ›Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii‹ in Moskau aufbewahrt wird (fond 825, opis’ 1, delo 296; Erstveröffentlichung: Certificat de mariage, 5 octobre 1858. In: Bakounine CD-ROM siehe Anm. 5 , divers); er enthält zahlreiche Lesefehler.
Die Edition folgt Version (c), der ältesten überlieferten Fassung; sie wurde freundlicherweise von Sergej Samojlenko (Tomsk) zur Verfügung gestellt. Deutsche Erstübersetzung von Frank Hartz und Lore Naumann:
Auszug aus dem Archiv des Geistlichen Konsistoriums Tomsk
Im Kirchenbuch der Voskresenskaja Cerkov’ [Auferstehungskirche] der Stadt Tomsk wird für das Jahr achtzehnhundertachtundfünfzig (1858) im Teil 2 über Eheschließungen als 24. geschlossene Ehe angegeben: Am 5. Oktober wurden getraut: Der ehemalige Artillerieoffizier Michail Aleksandrov51 Bakunin, orthodoxen Glaubens, erstmals verehelicht, 40 Jahre alt, die Adlige Antonina Ksaverieva Kvjatkovskaja, ledig, römisch-katholischen Glaubens, 17 Jahre alt, durch den Geistlichen Aleksij Lavrov Orlov und den Diakon Ioann Popov sowie den Küster Ioann Voznesenskij. Trauzeugen von seiten des Bräutigams: Der Tomsker Kleinbürger Ivan Andreev Bardakov, Redakteur der ›Enisejskie Gubernskie Vedomosti‹, [und] der Gouvernements-Sekretär Modest Nikolaev Maslovskij; von seiten der Braut: Oberinspektor über die privaten Goldminen, Kollegiensekretär Vladimir Nikolaev. – Weder in dem vorliegenden Auszug noch in der Kirchenbucheintragung über die Eheschließung der oben genannten Personen selbst wurden Tilgungen oder Korrekturen vorgenommen. In der siebten Zeile wurde das Wort »Lavrov« als überflüssig gestrichen. Den Auszug erstellte der a[mtierende] A[rchivar] Vladimir Slovcov.
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51 Im Kirchenbuch wurde die archaische Form des Vatersnamens verwendet (Aleksandrov statt Aleksandrovič, Ksaverieva statt Ksaver’evna usw.), die an das Kirchenslawische angelehnt ist.
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Deutsche Erstübersetzung von Frank Hartz nach Lemke: Ocerki, a.a.O. (Anm. 15), S.135-136.
14. Juni 1862
Lieber Freund Michel,
Ich warte auf die Genehmigung aus Petersburg, zu Dir zu fahren, ich weiß nicht, wann wir uns sehen werden, es ist traurig, sehr traurig; solange ich mir vorgemacht hatte, völlig frei zu sein, wartete ich ruhig auf eine Möglichkeit, zu Dir zu fahren, aber jetzt, da ich weiß, daß ich, auch wenn es 1000 Möglichkeiten gäbe, nicht zu Dir fahren kann, ist es so schwer, daß ich es Dir kaum beschreiben kann. Aber wir werden uns sehen, koste es was es wolle, niemand ist imstande, uns daran zu hindern; sei versichert, daß es mein starker und unabänderlicher Wunsch ist, mit Dir zusammen zu sein und Dich möglichst glücklich zu machen.
Auf Wiedersehen, mein lieber, treuer Freund. Deine Dich liebende und verehrende Brenčaninova63
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63 Deckname von Antonija.
[...] Der Empfänger von Brief Nr. 3 ist nicht namentlich genannt, aus dem Inhalt geht jedoch hervor, daß dieser
(1) sich zur Zeit der Abfassung des Briefs (2. Juli 1862) in London aufgehalten hat und
(2) ein Bekannter von Bakunins altem Freund Carl August Röckel gewesen sein muß.
Diese Bedingungen passen auf Feodor Streit (näheres über ihn unten), der die Londoner ›Versammlung von Mitgliedern und Freunden des deutschen Nationalvereins‹ am 28. Juni 1862 leitete, die anläßlich der zweiten Welt-Industrieausstellung in London abgehalten wurde.
Zu (1) Streit hielt sich auch nach dem 28. Juni noch einige Tage in London auf: Einen Termin am 5. Juli mußte Streit bereits am 28. Juni absagen, da es aufgrund seiner zahlreichen Verpflichtungen in London bis dahin unmöglich sei,
von hier abzukommen;7 erst am 12. Juli 1862 wurde gemeldet, daß Streit London wieder verlassen habe.8Zu (2) Röckel und Bakunin kannten sich aus gemeinsamen Dresdner Tagen. In den Jahren 1843-1848 war Röckel Musikdirektor der Königlichen Kapelle in Dresden, ab August 1848 Herausgeber der radikaldemokratischen ›Volksblätter‹ und gehörte 1849 zu den engsten politischen Freunden Bakunins in Dresden. Nach der Niederschlagung des Dresdner Maiaufstands 1849 wurden sie zusammen vor Gericht gestellt und auf der Festung Königstein inhaftiert. Anders als Bakunin, der im Juni 1850 an Österreich ausgeliefert wurde, verblieb Röckel in sächsischer Haft und wurde aufgrund seiner Weigerung, ein Gnadengesuch beim sächsischen König einzureichen, erst im Januar 1862 als letzter sächsischer Maigefangener aus dem Gefängnis entlassen. Bereits kurz nach seiner Freilassung trat Röckel dem Deutschen Nationalverein bei, einer 1859 gegründeten Sammlungsbewegung, die Demokraten und Liberale, Republikaner und konstitutionelle Monarchisten vereinigte. Zu den ersten Kontakten Röckels im Nationalverein gehörte dessen ›linker‹ Exponent und Geschäftsführer Feodor Streit (1820-1904) in Coburg.9 Streit war neben seiner Tätigkeit als Geschäftsführer des Nationalvereins und Rechtsanwalt auch Besitzer einer Druckerei und Verlagsbuchhandlung und gab neben der ›Wochenschrift des Nationalvereins‹ (ab 1860) auch die ›Deutsche Turn- und Volks-Wehr-Zeitung‹ (ab 1861) heraus, ein Organ der demokratischen Turn-, Schützen- und Volkswehrbewegung. Zusammen mit Röckel plante Streit nun die Herausgabe einer weiteren Zeitschrift, über die es in einer zeitgenössischen Pressemeldung hieß:
Von Weimar, wo er [Röckel] seit seiner Freilassung gewohnt, wird er im nächsten Monat nach Koburg übersiedeln, um dort im Verlage von F. Streit ein für Sachsen und Thüringen berechnetes Volksblatt herauszugeben.10
Der enge Kontakt zwischen Röckel und Streit ist auch aus Briefen Röckels ablesbar, die sich in der Monacensia-Abteilung der Münchner Stadtbibliothek erhalten haben. In einem Brief an Streit vom 18. Juni 1862 schrieb Röckel über die von ihm anzuknüpfenden Verbindungen, die für unser Blatt
so wichtig seien. Am 20. Juni bezog sich Röckel auf Streits bevorstehende Reise nach London,11 die im Zusammenhang mit der oben erwähnten Versammlung des Nationalvereins stand, zu der Streit bereits zwei Monate zuvor in einer Vorstandssitzung des Nationalvereins offiziell delegiert worden war.12 Für diese Reise nach London schlug Röckel seinem Freund Streit nun eine ganz spezielle Mission vor: einen Besuch bei Bakunin, von dem Röckel kurz zuvor einen politisch brisanten Brief erhalten hatte. Da Streit, der ungefähr am 23. Juni 1862 nach London aufbrach,13 den von Röckel übersandten Bakuninbrief nicht mehr gelesen hatte, schickte Röckel am 22. Juni noch einmal Auszüge aus diesem Brief (siehe Nr. 2)14 und diskutierte ausgiebig die darin zum Ausdruck gebrachten slawischen Emanzipationsforderungen. Angesichts der Besetzung slawischer Länder durch Preußen, Rußland, Österreich und das osmanische Reich erklärte Röckel:
Kann uns eine russisch-slavische Revolution an sich mindestens gleichgültig, bei dauernd freiheitlichem Erfolg sogar nur erwünscht sein, so dürfen wir doch die weitren Tendenzen dieser Bewegung umso weniger leicht nehmen, als es sich hier nicht etwa nur um blose Projekte, sondern – wie die neuesten Vorgänge in Rußland, Polen und Serbien darthun – um eine sichtbar näher rückende Gefahr handelt. [...] Ich bedauere unter solchen Umständen doppelt, daß ich nicht mit nach London gehen konnte. Die ganze slavische Bewegung steht in innigster Verbindung mit den Italienern, Bakunin besucht im August Garibaldi,15 um das bisher nur brieflich gepflogene Band persönlich noch fester zu schließen; wir Deutschen aber gelten allen diesen Völkern, denen allgemach die Bestimmung über die nächsten Schicksale Europa’s zufällt, als Feinde, die auch in ihren vorgeschrittensten Repräsentanten gemieden werden müssen. Nur unsre alte Freundschaft, unsre höhere Uebereinstimmung u. das Bedauern, uns voraussichtlich bekämpfen zu müssen, hat B.[akunin] mir gegenüber den Mund geöffnet. [...] Mein unmaßgeblicher Rath nun wäre, daß Streit Bakunin – ohne diese Mittheilung zu verrathen – zu einer ähnlichen u. noch weitren Offenheit ihm gegenüber veranlaßte und geradezu Aufschluß über das verlangte, was die Slaven uns gegenüber ›ihr ganzes Recht‹ nennen. Daß wir gewisse Opfer bringen müssen, steht fest, eine friedliche Verständigung aber kostet uns jedenfalls weniger, als uns späterhin in anderer Weise unfehlbar abgenommen würde. Der letztren Eventualität vorzubeugen soweit möglich, ist eine selbstverständliche, höchste Pflicht. Ich meinerseits halte eine Verständigung mit den Führern der slavischen Bewegung noch vor Ausbruch des Kampfes nicht für unmöglich, nicht einmal für schwer, denn die wirklich Machthabenden unter ihnen sind jedenfalls keine hirnverbrannten Fanatiker, die zu Gunsten angeblicher historischer Rechte und Ansprüche Alles aufs Spiel setzen werden. Freilich mag es drollig klingen, wenn wir, die beiderseits noch nichts besitzen, über gegenseitige Concessionen und Gebietsabtretungen uns verständigen wollen, allein es handelt sich hier nur darum, auf unsrer Seite die Gesichtspunkte festzustellen, in deren Sinn wir durch Wort u. Schrift Propaganda zu machen haben, u. der feindlichen Richtung von jener Seite die Spitze abzubrechen. Bakunin’s Adresse: 10 Paddington Green, London.16
Der Brief war wegen der Abreise Streits an dessen Mitarbeiter Ludwig Schweigert (geb. 6. Februar 1832) in Coburg gerichtet, einem ehemaligen Hauptmann der österreichischen Armee, der seit 1861 in enger Abstimmung mit Streit und im Rahmen des Nationalvereins die Tätigkeit der demokratischen Schützenund Volkswehrvereine koordinierte und die Idee der Volksbewaffnung propagierte. Röckel bat Schweigert ausdrücklich, das Briefblatt mit den oben zitierten Erwägungen nach London zu senden, wenn »Freund Streit bereits fort sein« sollte.17
Auch Schweigert, der kurz darauf ebenfalls nach London zu fahren beabsichtigte und zu diesem Zweck bereits einen Empfehlungbrief der Gräfin Hatzfeld sowie von Lassalle an Marx hatte,18 teilte Röckel seine Reisepläne mit, woraufhin Röckel nun auch Schweigert überzeugen wollte, Bakunin zu besuchen:
Bakunin wird Ihnen gefallen; er scheint Nichts von seiner Energie eingebüßt zu haben und Sie werden sich mit großer Standhaftigkeit [be]stücken müssen um seinem vorauszusehende[n] Andrängen auf sofortiges Losschlagen widerstehen zu können. Indessen ist er ein Prachtexemplar von einem Menschen, das kennen zu lernen, sich schon der Mühe lohnt. Ich wollte, wir hätten einige Tausend der Art.19
Schweigert hatte jedoch bereits zuvor gegenüber Lassalle unmißverständlich klar gemacht, daß er ausschließlich zur Waffenbeschaffung nach London zu fahren beabsichtige: Ich sage es Ihnen offen, ich will bei dieser Reise nur solche Leute sprechen, die mit mir einverstanden sind, Gewehre beizuschaffen. Das ist meine Politik, weiteres verstehe ich nicht
20 – somit erscheint unwahrscheinlich, daß Schweigert Bakunin besucht haben könnte.
Feodor Streit hat aber offensichtlich Kontakt zu Bakunin aufgenommen und erhielt von diesem die unter Nr. 3 publizierte briefliche Einladung. Leider ist nichts darüber bekannt, ob Streit dieser Einladung am 3. Juli 1862 um 5 Uhr nachmittags auch gefolgt ist21 – weder in der einzigen bis heute erschienenen Biografie Streits noch in dessen unveröffentlichter AutoBiografie finden sich hierzu Anhaltspunkte22 und auch in den überlieferten Zeugnissen Bakunins gibt es offenkundig keine entsprechenden Hinweise. Wenn es zu einem Treffen gekommen ist, dürfte es nicht sehr ergiebig gewesen sein, da Streit jedenfalls nicht der Mann war, im Sinne der Empfehlungen Röckels eine internationale Kooperation anzubahnen. Während seines Londoner Aufenthalts äußerte Streit beispielsweise im Rahmen eines Besuchs beim Londoner deutschen Turnerverein, dieser solle keine speziellen parteipolitischen, sondern vor allem deutsch-nationale Ziele verfolgen: es gibt kein liberales und kein reaktionäres Turnen, es gibt aber deutsche, slavische und französische Muskeln. Es ist möglich, daß deutsche Muskeln auf französische Muskeln zu klopfen haben, und das nennt man auch Politik
.23
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(aus einem Brief von Carl August Röckel an Ludwig Schweigert)
Du sollst den langsamen und etwas langweiligen Reformengang mit dem deutschen Michel durchmachen, ich stehe auf dem brennenden Boden der russisch-slavischen Revolution – und wenn diese Revolution sich mit der deutschen Reform feindlich begegnet, was sollen wir dann, alter Freund, thun? Wir werden Nichts als das Recht, aber unser ganzes slavische Recht fordern – Es ist sicher aber daß Deutschland gar nicht dazu gestimmt ist unser Recht anzuerkennen. – Also muß es zum Kampfe kommen – und in meiner alten Weise predige ich jetzt den allgemeinen Aufstand der Slaven für die Freiheit und somit gegen Deutschland. [...] ob es ein praktisches Mittel zur Verständigung u. zur Versöhnung vor dem Kampfe gäbe?
Erstdruck aus dem Originalmanuskript des Briefes von Carl August Röckel an Ludwig Schweigert vom 22. Juni 1862 in der Münchner Stadtbibliothek, Monacensia Literaturarchiv, Bestand Deutscher Nationalverein.
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Den 2ten Juli. 1862 – London
10. Paddington Green. W–
Geehrter Herr
Sehr gern hätte ich Sie in Ihrer Wohnung24 besucht, wenn ich nicht gerade in die von Ihnen bestimmte Stunde einen Besuch selbst erwartete. – Da ich aber ungeduldig bin einen Freund von Röckel kennen zu lernen, so erlaube ich mir Sie Morgen d.h. Donnerstag um 5 Uhr Nachmittag zum Mittagessen einzuladen. Wir werden ganz allein sein, also die vollständigste Möglichkeit haben uns frei auszusprechen –
Hochachtungsvoll
M. Bakunin
Erstdruck nach dem Originalmanuskript in Bakunins Handschrift (1 p.) in der Münchner Stadtbibliothek, Monacensia Literaturarchiv.25
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7 Streit an Korrespondenten des Nationalvereins, 28. Juni 1862. In: Bundesarchiv Berlin, Bestand Deutscher Nationalverein, Signatur: R 8031/29, Blatt 178-179.
8 Hermann. Deutsches Wochenblatt aus London, 4. Jg., Nr. 184, 12. Juli 1862, S. 1468-1469; vgl. ebd., Nr. 183, 5. Juli 1862, Titelseite. Streit scheint sich von London direkt zum Frankfurter Schützenfest begeben zu haben, das am 13. Juli 1862 eröffnet wurde. Nach den Geschäftspapieren des Nationalvereins zu urteilen, hat er erst am 15. Juli seine Tätigkeit in Coburg wieder aufgenommen (Bundesarchiv Berlin, Bestand Deutscher Nationalverein, Signatur: R 8031/28, Blatt 81, 83-88, 90, 92-105, 144).
9 Feodor Streit (1820-1904), geboren in Hildburghausen, Sohn eines Landwehroffiziers, erhielt eine religiös-konservative Erziehung. Er besuchte bis 1841 das Coburger Gymnasium, studierte Rechts- und Staatswissenschaften in Jena und (ab dem Wintersemester 1843) in Heidelberg. Dort kam er in Kontakt zu dem demokratischen Publizisten Gustav Struve, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband. Im Frühjahr 1848 wurde er in Sonnefeld in den Justizdienst übernommen, ließ sich jedoch bereits Anfang Mai wieder beurlauben, um sich vollständig der demokratischen Bewegung widmen zu können; am 4. Oktober 1848 schied er ganz aus dem Staatsdienst aus. 1848 galt er als zentrale Figur der Coburger Demokraten, nahm im Juni am Frankfurter Demokratenkongreß teil und gründete noch im selben Monat einen demokratischen Bürgerverein in Coburg. Im Oktober 1848 übernahm er das ›Coburger Tageblatt‹ (das er drei Jahre später während der Reaktionszeit wieder eingehen lassen mußte) und gründete im Januar 1849 die ›Neue deutsche Dorfzeitung‹. Nachdem er die Bewaffnung des Coburger Bürgervereins gefordert und sich auf einer Volksversammlung in Lichtenfels (Mai 1849) zugunsten der Reichsverfassungskampagne ausgesprochen hatte, wurde er wegen Hochverrats, Majestätsbeleidigung und zahlreicher Pressevergehen vor Gericht gestellt und verbrachte zwischen 1848 und 1855 43 Monate im Gefängnis, »zu einem großen Theil Untersuchungshaften mit nachfolgenden Freisprechungen« wie er in seiner AutoBiografie schrieb. Seiner rechtsgültigen Wahl zum Bürgermeister von Neustadt an der Haide bei Coburg wurde von der Regierung die Bestätigung verweigert. Gegen starke Widerstände erhielt er 1856 die Zulassung als Advokat in Coburg, 1857-1867 stand er an der Spitze der Demokraten im Landtag von Sachsen- Coburg-Gotha (Literatur über Streit siehe unten, Anm. 22).
10 Berliner Reform, Nr. 195, 21. August 1862, S. 3. Von diesem Zeitungsprojekt war zuvor auch Lassalle berichtet worden: »Gegenwärtig ist er [Röckel] wieder in Koburg, wo er ein Organ des Nationalvereins [...] zu redigieren berufen ist« (Hans von Bülow an Lassalle, [3. August 1862]. In: Ferdinand Lassalle: Nachgelassene Briefe und Schriften. Hrsg. von Gustav Mayer. Band 5. Stuttgart, Berlin 1925, S. 47). – Zu einer gemeinsamen Zeitungsgründung von Röckel und Streit ist es jedoch nicht gekommen: Röckel brachte am 2. Januar 1863 in Eigenregie die erste Nummer der ›Frankfurter Reform‹ heraus, Streit ließ ab 17. September 1864 das ›Coburger Tagblatt‹ wieder erscheinen.
11 Röckel an Streit, 18. Juni 1862. Dieselben, 20. Juni 1862. In: Münchner Stadtbibliothek, Monacensia Literaturarchiv, Bestand Deutscher Nationalverein.
12 Vorstandssitzung vom 20. April 1862. In: Der Deutsche Nationalverein 1859- 1867. Vorstands- und Ausschußprotokolle. Hrsg. von Andreas Biefang. Düsseldorf 1995, S. 183-184.
13 Am 19. Juni 1862 hatte Ludwig Schweigert an Lassalle geschrieben: »Streit geht übermorgen nach London« (Lassalle: Nachgelassene Briefe und Schriften, a.a.O., S. 31), aber noch am 23. Juni schrieb Streit einen Brief aus Coburg (Streit an die Foerstner’sche Verlagsbuchhandlung in Leipzig, 23. Juni 1862. In: Bundesarchiv Berlin, Bestand Deutscher Nationalverein, Signatur: R 8031/27, Blatt 208).
14 Das von Röckel an Streit gesandte Original des Bakunin-Briefs ist nicht überliefert, sein Inhalt ist nur aus den unter Nr. 2 erstmals publizierten Auszügen bekannt.
15 Bakunin besuchte mit seiner Frau Antonija vom 19. bis 23. Januar 1864 Giuseppe Garibaldi auf der Insel Caprera (vgl. Lettre à Elizaveta Vasil’evna Salias-de-Tournemire, 1 février 1864, S. 2-3. In: Bakounine CD-ROM, und Pier Carlo Masini: La visita di Bakunin a Garibaldi. In: Movimento Operaio. Rivista di storia e bibliografia, 4. Jg., Nr. 3, Mai - Juni 1952, S. 472-481). Bakunin hatte am 31. Januar 1862 brieflich Kontakt mit Garibaldi aufgenommen und erwog einen Besuch bei ihm (Lettre à Giuseppe Garibaldi, 31 janvier 1862. In: Bakounine CD-ROM. Vgl. auch Lettre à Nikolaj Ivanovič Turgenev, 1 février 1862. In: Ebd.).
16 Carl August Röckel an Ludwig Schweigert, 22. Juni 1862. In: Münchner Stadtbibliothek, Monacensia Literaturarchiv, Bestand Deutscher Nationalverein.
17 Ebd. Über Schweigert siehe Peter Wiede: Wilhelm Rüstow (1821-1878). Ein Militärschriftsteller der deutschen Linken. Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, 1957, S. 61-75.
18 Sophie von Hatzfeldt an Marx, 5. Juni 1862. In: Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no politiceskoj istorii, Moskau, fond 1, opis’ 5, delo 1324. Lassalle schrieb in seinem Brief, Schweigert sei »der ehrlichste und zuverlässigste Kerl von der Welt. C’est un homme d’action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine, die er von Koburg aus organisiert, und geht jetzt nach London, um dort Geldmittel für 3000 Gewehre aufzutreiben, die er für die Wehrvereine braucht« (Lassalle an Marx, 19. Juni 1862. In: Ferdinand Lassalle: Nachgelassene Briefe und Schriften. Hrsg. von Gustav Mayer. Band 3. Stuttgart, Berlin 1922, S. 396; vgl. auch Schweigert an Lassalle, 27. April 1862 und 5. Juni 1862. In: Ebd., Band 5. Stuttgart, Berlin 1925, S. 7-8 und 20-21). Schweigert meldete sich mit Briefen vom 29. und 30. Juni 1862 bei Marx an (Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam, Karl Marx / Friedrich Engels Papers, D 4017 und 4018). Über Schweigerts Besuch bei Marx am 2. Juli 1862 siehe Marx an Engels, 5. Juli 1862. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 30. Berlin 1964, S. 251.
19 Röckel an Schweigert, [Ende Juni 1862]. In: Münchner Stadtbibliothek, Monacensia Literaturarchiv, Bestand Deutscher Nationalverein.
20 Schweigert an Lassalle, 5. Juni 1862, a.a.O., S. 20.
21 Am 3. Juli um 8 Uhr abends fand ein informelles Treffen Londoner Sympathisanten des Nationalvereins statt, zu dem Rudolph Eduard Christmann, Max Wirth und Streit am 2. Juli 1862 eingeladen hatten (Bundesarchiv Berlin, Bestand Deutscher Nationalverein, Signatur: R 8031/28, Blatt 111).
22 Konrad Bechstein: Feodor Streit. Ein Kämpfer für Einheit und Freiheit. 1848, 1859, 1866. Coburg 1925. Feodor Streit: Aus meinem Leben. Mit einem Anhang, Mittheilungen aus dem Rechtsleben in einem deutschen Kleinstaat. [Korrekturabzug der Druckfahnen, Leipzig 1877]. In: Bundesarchiv Berlin, Teilnachlaß Streit, Signatur: N 2299/9. – Eine indirekte Bezugnahme auf Bakunin ist in der von Streit verlegten ›Allgemeinen deutschen Arbeiter-Zeitung‹ zu finden, die Mitte 1863 eine Zusammenfassung von Bakunins Artikeln in der schwedischen Presse brachte und mit den Worten einleitete: »Der bekannte russische Flüchtling Michael Bakunin hat in Stockholmer Blättern in einer Reihe von Artikeln sich über die Pläne und das Wirken der revolutionären Partei in Rußland eingehend ausgelassen, und dabei manche Aufschlüsse gegeben, die auch für weitere Kreise nicht ohne Interesse sein werden« (Allgemeine deutsche Arbeiter-Zeitung, Nr. 26, 28. Juni 1863, S. 163; vgl. auch Nr. 16, 19. April 1863, S. 87). Ferner sollte im selben Jahr in Streits Verlagsbuchhandlung eine Publikation von Gustav Struve und Gustav Rasch unter dem Titel ›Dreißig Streiter der Revolution‹ erscheinen, zu der – nach der einzig publizierten gekürzten Ausgabe von 1867 zu schließen – auch eine interessante Würdigung Bakunins gehörte (Gustav Struve und Gustav Rasch: Zwölf Streiter der Revolution. Berlin 1867. S. 175-180; vgl. auch Georg Herwegh an Lassalle, 25. Oktober 1863. In: Lassalle: Nachgelassene Briefe und Schriften, a.a.O., Band 5, S. 243). Der direkte Kontakt Streits mit Bakunin ist jedoch offensichtlich nicht fortgesetzt worden – schon im Folgejahr beklagte sich Schweigert: »Der Nationalverein steht mit den Patrioten anderer Völker in gar keiner Verbindung« (Schweigert an Emma Herwegh, 5. März 1863. In: Wiede, a.a.O., S. 65).
23 Hermann, a.a.O., Nr. 184, 12. Juli 1862, S. 1469.
24 Streit wohnte in Seyd’s Hotel (39 Finsbury Square), wo die nach London delegierten Vorstandsmitglieder des Nationalvereins abgestiegen waren und für die Dauer ihres Aufenthalts ein Büro eingerichtet hatten (Streit an eine Unbekannte, 29. Juni 1862. In: Bundesarchiv Berlin, Teilnachlaß Streit, Signatur: N 2299/2, Blatt 116. Hermann, a.a.O., Nr. 181, 21. Juni 1862, S. 1446).
25 Die Provenienz des Briefs ist unbekannt, da er bereits vor dem 16. Juni 1930 in die Monacensia-Sammlung eingegangen ist und aus dieser Zeit keine Nachweise erhalten sind (für diese Mitteilung danke ich Gabriele Weber, Literaturarchiv der Monacensia). Da ein Teil des Bestands Nationalverein der Monacensia aus Streits Nachlaß stammt, wäre es denkbar, daß auch Brief Nr. 3 aus dieser Quelle in die Monacensia gekommen ist. Die Handschriftenabteilung der Monacensia wurde 1924 vom Stadtbibliotheksdirektor Hans Ludwig Held (1885-1954) gegründet, der aufgrund vielfältiger Beziehungen innerhalb kurzer Zeit eine große Anzahl von Autographen zusammentrug.
[...]
Wolfgang Eckhardt: Von der Dresdner Mairevolution zur Ersten Internationale.
Untersuchungen zu Leben und Werk Michail Bakunins.
Verlag Edition AV, Lich (Hessen) 2005.
Den Menschen befreien, das ist die
einzige legitime und wohltuende Einflußnahme
(Brief von Michail Bakunin an seinen Bruder Pavel
vom 29. März 1845)
Als Herausgeber der seit 1995 im Berliner Karin Kramer Verlag erscheinenden Edition Ausgewählter Schriften
Michail Bakunins (1814- 1876) hat Wolfgang Eckhardt sich bereits einschlägig als exquisiter Kenner des russischen Revolutionärs, Mitbegründers und ersten Organisators des modernen Anarchismus ausgewiesen. Auch in den übrigen von ihm bislang veröffentlichten Buchtiteln hat Eckhardt mit liebevoller Bearbeitung, fundierter Quellenanalyse, historischer Detailgenauigkeit und dem Mut zu innovativen Fragestellungen neue Maßstäbe für die Bakuninforschung im deutschsprachigen Raum gesetzt, die als beispielhaft für die in vielen Bereichen bis heute noch ausstehende Rekonstruktion libertärer Traditionslinien gelten können.1
Eine neue Zugangsmöglichkeit zum Eckhardtschen Forschungsprojekt bietet seit September 2005 ein in der Edition AV verlegter Band mit dem Titel Von der Dresdner Mairevolution zur Ersten Internationale. Untersuchungen zu Leben und Werk Michail Bakunins
. Hierin versammelt der Autor in überarbeiteter Form insgesamt fünf Spezialstudien. Ursprünglich als Beiträge für verschiedene Anthologien und Zeitschriften verfaßt, werden diese dem interessierten Publikum nicht allein aufs Neue verfügbar gemacht, sondern auch erstmals in sich gegenseitig sinnvoll ergänzender Zusammenstellung präsentiert. Eine editorische Komposition, die durch ein fein gesponnenes Gewebe inhaltlicher Rückbezüge und historiographischer Querverbindungen eine durchaus neue Qualität entfaltet und Eckhardts methodischen Ansatz noch plastischer unterstreicht, als das ihren zuvor nur isoliert erschienenen Einzelteilen bis dato möglich war. In der Folge bietet sich dieses Buch nicht nur für Neueinsteiger als ein spannendes Lektüreerlebnis an. Auch denjenigen, die sich bereits eingehender mit der Thematik auseinandergesetzt haben, eröffnet sich ein gewinnbringender Reigen von Forschungserträgen, mit denen Eckhardt auf erhellende und oftmals überraschende Weise wesentliche Bezugspunkte des abenteuerlichen Lebensweges wie der subversiven Theoriebildung Michail Bakunins der historischen Vergessenheit und ideologischer Ausblendung entreißt.
Gegliedert ist der Sammelband in zwei große Abschnitte, programmatisch überschrieben mit »Biografie« (S. 7-25) und »Streifzüge« (S. 27-206).
Eröffnet wird der erste Teil mit einer durchgesehenen und aktualisierten Fassung eines Beitrages (S. 7-17), mit dem der Autor bereits seit 1996 im deutschsprachigen Lexikon der Anarchie
das Stichwort Bakunin, M. A.
abdeckt.2
Eine ebenso komprimierte wie grundlegende Heranführung, die gerade da am stärksten wirkt, wo es Eckhardt unternimmt, im Rahmen seiner Ausführungen zu Bakunins Stellenwert innerhalb des libertären Spektrums
dessen fortdauernde Impulse zu umreißen. Hierbei entwirft er ein anregendes Gegenbild zu der reduktionistischen Einordnung Bakunins in die polittheoretische Schublade des mehr oder weniger blindwütigen Aktionisten und theorieschwachen Kollektivisten
, wie sie leider nach wie vor in zahlreichen Anarchismusdarstellungen vornehmlich akademischer Provenienz überwiegt. Historisch wohl begründet verweist Eckhardt auf die Pionierrolle, die Bakunin vor dem Hintergrund der Auffächerung des Sozialismus in Sozialdemokratie, Kommunismus und Anarchismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugefallen ist
(S. 15), und führt im Hinblick auf die spätere Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Schulen des Anarchismus weiter aus: In diesem Sinne gehören Bakunins Ideen strömungsübergreifend dem gesamten herrschaftslosen Sozialismus an, sie bilden sozusagen das Urgestein antiautoritären Gedankengutes.
(S. 15).
Im abschließenden Resümee der methodischen Schwierigkeiten, die das Bakuninsche Śuvre aus sich selbst heraus einer unbefangenen Annäherung entgegenstellt, lädt uns Eckhardt gleichsam zu einem Blick in seine Forscherwerkstatt ein und läßt uns am Ansporn und Impetus seiner unermüdlichen, biographisch orientierten Studien teilhaben: Überhaupt sind Bakunins Beiträge zur anarchistischen Theorieentwicklung lange Zeit unterschätzt worden – vielleicht auch aufgrund des unsystematischen Stils seiner Schriften, die zwar gespickt sind mit außergewöhnlichen Ideen und Einsichten, aber zum Teil die richtigen Proportionen vermissen lassen. Bakunin hat keines seiner Werke als abstrakte Gedankenkonstruktion verfaßt, sondern in der intensiven Auseinandersetzung mit seiner Zeit und im Zusammenhang mit seiner revolutionären Tätigkeit. Die Kenntnis seiner Biografie [...] ist daher zum Verständnis seines Werkes von großer, aber oft vernachlässigter Bedeutung.
(S. 16).
Ein unkritisches Herangehen an die bereits vorliegenden Darstellungen von Bakunins Lebensweg begibt sich vor diesem Hintergrund leicht in Gefahr, Wege der Erkenntnis eher zu verstellen als neu zu öffnen. Dies arbeitet Eckhardt exemplarisch im zweiten Beitrag des vorliegenden Sammelbandes heraus, der sich mit der 1999 vom Hamburger Nautilus Verlag in deutscher Übersetzung veröffentlichten, groß angelegten Bakunin-Studie von Madeleine Grawitz befaßt (S. 18-25).3
Auch hierin gelingt es ihm, die Behandlung seines engeren Untersuchungsgegenstandes in den größeren Rahmen einer historisierenden Rückschau einzubetten, auf deren Basis sich dann erst methodisch vorwärtsweisende Perspektiven formulieren lassen. Wie in diesem Zusammenhang die bisherigen Standard- Biografien Bakunins quasi en passant in ihren politisch-ideologischen Gebundenheiten, inhaltlich blinden Flecken und formalen Fallstricken kritisch gewürdigt werden, ist in jeder Hinsicht lesenswert, anregend und spricht ebenso für tiefgehende Sachkenntnis wie für komprimierte Treffsicherheit.
Neben Max Nettlau (1865-1944), dem großen Historiker der Anarchie, der die Ergebnisse seiner in vielerlei Hinsicht bis heute grundlegenden Bakunin- Recherchen erstmals während der Jahre 1896-1900 in einem leider nur mühsam lesbaren Manuskript-Monster von 1292 großformatigen Seiten
(S. 18) niederlegte, findet dabei u.a. auch das vierbändige Bakunin-Opus Erwähnung, welches Jurij Michaijlovič Steklov (1873-1941) in den Jahren 1926/27 vorlegte. Dessen eigentümlichen Zwiespalt zwischen energiegeladenem Forschungseifer auf der einen und marxistisch fixierter Ressentiment-Geladenheit auf der anderen Seite entschlüsselt Eckhardt klarsichtig als methodisch konsequentes Abbild der historisch-spezifischen Zwitterposition, in der sich die sowjetische Bakuninforschung im nachrevolutionären Rußland zwangsläufig bewegte: als Dienerin zweier Herren, [hatte sie sich] sowohl an der Rekonstruktion der Geschichte der russischen revolutionären Bewegung als auch an der Konstruktion einer gradlinigen Parteigeschichte abzuarbeiten
(S. 18 f.).
Das 1990, also über sechzig Jahre später, im französischen Original erschienene Buch von Madeleine Grawitz führt auf seine Art diese ambivalente Tradition der großen Bakunin-Biografien fort – und zwar vermittelt über den englischen Historiker und Politologen Edward Hallett Carr (1892-1982). Durch einen detaillierten Werkvergleich weist Eckhardt nach, daß Grawitz sich in Anlage und Abfolge der einzelnen biographischen Informationen ganz wesentlich an dessen bereits 1937 in London publizierte Monographie »Michael Bakunin« angelehnt hat. Daß die Suche nach Verweisen auf diese entscheidende Quelle bei Grawitz so gut wie ergebnislos bleibt, wirft an sich schon kein allzu günstiges Licht auf die wissenschaftliche Redlichkeit ihres Vorgehens. Vollends infrage gestellt wird diese allerdings durch den peinlichen Umstand von sinnentstellenden Abschreibefehlern, die sich beim Nacherzählen einzelner Passagen aus Carrs Buch eingestellt haben. Leider überlagern auch darüber hinaus drastische Mißgriffe beim Quellenstudium, offensichtliche Nachlässigkeiten bei eigenen historischen Recherchen und eine weitgehende Nichtberücksichtigung moderner Forschungsergebnisse die durchaus vorhandenen positiven Aspekte in Grawitz’ Darstellung.
Würdigend zählt Eckhardt zu den letzteren beispielsweise ihre differenzierende Analyse von Bakunins Stellung zum Problemkomplex der revolutionären Gewaltanwendung. Eine einfühlsam-sachentsprechende Zurückhaltung legt sich Grawitz auch bei einer ganzen Reihe sonstiger Reizthemen auf, die in weiten Teilen der historischen Zunft bislang mit (un)schöner Regelmäßigkeit zu wüsten Spekulationen und absichtsvollen Denunziationen Anlaß gegeben hatten – neben einem schlüpfrigen Dauerbrenner wie dem posthum zum Objekt bizarrer Projektionen avancierten Sexualleben Bakunins gehört hierzu etwa auch ein politisch so brisantes Dokument wie die Beichte
des eingekerkerten Revolutionärs an Zar Nikolaus I.
In wohltuendem Kontrast zum nach wie vor verbreiteten Zerrbild Bakunins als zähnefletschendem Pyromanen des Frühsozialismus porträtiert Grawitz ihn, wie er von seinen Freunden und Bekannten erlebt wurde: als den liebenswürdigsten aller Revolutionäre, als charmante, eindrucksvolle Persönlichkeit, dessen unkompliziertes Wesen auf vielbeschriebene Weise die Menschen, mit denen er in Kontakt kam, für sich eingenommen hat.
(S. 25).
Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, daß trotz dieser vorwärtsweisenden Ansätze Grawitz’ Annäherung an Bakunin im Ganzen ein zwiespältiges Gefühl hinterlassen muß und daß aktuell für die deutschsprachige Leserschaft auch nach der Publikation ihres Buches noch immer keine umfangreiche und wirklich zuverlässig recherchierte Biografie verfügbar ist. Dies konstatiert Eckhardt mit ehrlichem Bedauern, aber ohne Resignation. Ganz im Gegenteil präsentiert er abschließend seinerseits einen ohne Frage konstruktiven Publikationsvorschlag. Dabei handelt es sich um Max Nettlaus 1926 beendete zweite Bakunin-Biografie, bei der es sich im Unterschied zu seinem ersten Versuch um eine prägnante, kenntnisreiche und wohldokumentierte Lebensbeschreibung in vier Bänden handelt. Dem deutschsprachigen Manuskript hat Eckhardt bis in die Bestände des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam nachgespürt, wo es seit Jahr und Tag druckfertig bereit liegt. Wann findet sich ein Verlag, der es herausbringt?
(S. 25) – ganz seiner methodisch reflektierten Arbeitweise verpflichtet, ergänzt Eckhardt diesen sehnsuchtsvollen Stoßseufzer sogleich durch den Fingerzeig, daß ein Anhang mit ergänzenden Verweisen auf neuere Studien zum Thema ratsam und ohne großen Aufwand realisierbar wäre. Erwähnung finden müßten dabei unbedingt auch seine eigenen Streifzüge
durch die Vita Bakunins, an deren Erträgen uns Eckhardt im gleichnamigen Abschnitt des hier zu besprechenden Buches teilhaben läßt.
Den Anfang macht eine Abhandlung über das Zustandekommen und das wechselhafte Schicksal der »Dresdner Bakuninakten« (S. 27-49).4
Ihr historischer Bogen umfaßt einen Zeitraum von nicht weniger als einem Jahrhundert und spannt sich von der Verhaftung Bakunins im Anschluß an den Dresdner Maiaufstand 1849 über die gegen ihn geführten Ermittlungen der politischen Polizei in Sachsen und Österreich bis hin zur Requirierung des diesbezüglichen Archivmaterials durch die sowjetischen Besatzungsbehörden im Frühjahr 1946 und seiner regierungsoffiziell veranlaßten Einverleibung in den Geheimbestand des Moskauer Marx-Engels-Lenin-Instituts (IMEL).
Unprätentiös mit Geschichte eines Koffers
(S. 27) betitelt, ist Eckhardt eine Darstellung der auslösenden Ereignisse gelungen, die in ihrer realgeschichtlich begründeten Dramatik wohl auch eingefleischte Liebhaber der Kriminalliteratur begeistern könnte. Zum leidvollen Auftakt der zwölfjährigen Odyssee Bakunins durch Kerker und Verbannung mangelt es keineswegs an zentralen Motiven dieses Genres: Nachdem das aufständische Dresden von preußischen Truppen überrannt worden ist, fällt Bakunin am 10. Mai 1849 als militärisch exponiertes Mitglied der besiegten Revolutionsregierung während des von ihm organisierten Rückzuges in Chemnitz durch Verrat und Intrige in tiefer Nacht erschöpft schlafend seinen Häschern in die gedungenen Hände. Sogleich tritt die mit der juristischen Aufarbeitung betraute Untersuchungskommission auf der Jagd nach belastenden Privatpapieren des festgesetzten Revolutionärs in einen fieberhaften Wettlauf mit der Zeit, in dessen Verlauf sich ein taktisches Ringen von zunächst ungewissem Ausgang entfaltet. Ein ums andere Mal gelingt es dem nachträglich zum Diktator und bösen Dämon des Maiaufstands hochstilisierte[n]
(S. 29) Bakunin, im Verlauf der endlosen Verhöre falsche Fährten zu legen, welche die beamteten Fahnder nicht nur vergeblich bis nach Malta und Paris führen, sondern auch diplomatische Verwicklungen von nicht unerheblichem Ausmaß provozieren. Daß kein geringerer als der politische Philosoph Alexis de Tocqueville (1805-1859) in seiner damaligen Funktion als französischer Außenminister zu diesem Anlaß generös jeder Beteiligung seiner Regierung an politischen Prozessen wie dem gegen Bakunin eine strikte Absage erteilt, verdient rückblickend auch aus heutiger Sicht Beachtung. Erst die sog. Handgranatenaffäre
(S. 32), in die u.a. Bakunins Freund und Mitangeklagter Carl August Röckel (1814-1876) verwickelt ist, bringt die Ermittler mehr zufällig auf die Spur eines »schwarzen ungewöhnlichen Koffer[s]« (S. 32). Und doch dauert es nochmals gut einen Monat, bis ihnen nach komplizierten Recherchen Ende Juni 1849 das ominöse Reiseutensil des russischen Emigranten, abgestellt in der Dresdner Töpfergasse 3, ins Netz geht. Verdrießlicherweise müssen sie im Nachhinein feststellen, daß es sich bei diesem Fahndungserfolg lediglich um einen von mehreren Koffern handelt, die Bakunin in den Wochen vor seiner Gefangennahme mit sich führte. Die Suche nach weiteren Gepäckstücken und Papieren verläuft jedoch rätselhafterweise im Sande...
Nicht weniger spannend als sein ereignisgeschichtlicher Rückblick liest sich Eckhardts anschließender Bericht über die Erschließung der Bücher, Briefe, Manuskripte und sonstigen Drucksachen aus dem sichergestellten Koffer Bakunins. Die politische Brisanz dieser Fundstücke erhellt schon daraus, daß sie noch vom Amtsgericht Dresden in ihrer Gesamtheit in fünf Aktenbänden unter dem Titel Beweisstücke zur Untersuchung gegen den Literat Michael Bakunin
(S. 47) archiviert und zur Komplettierung den eigentlichen Untersuchungsakten – ebenfalls fünf Bände – angegliedert wurden. Interessanterweise bezogen sich die in letzteren protokollierten Verhöre Bakunin keineswegs nur auf die Hintergründe des Maiaufstandes und seine eigene Beteiligung daran, sondern ganz wesentlich auch auf die Schriftstücke aus seinem Koffer.
Die historische Relevanz des insgesamt zehnbändigen Konvoluts schätzt Eckhardt vor diesem Hintergrund als immens ein: Der Inhalt der Akten – die Papiere aus dem Koffer Bakunins und insbesondere die Protokolle der Aussagen Bakunins – stellen eine biographische Quelle aller ersten Ranges dar, ohne deren Kenntnis kaum stichhaltige Aussagen über Bakunin in den Jahren 1848/49 möglich sind. Um so überraschender ist es, daß bisher nur in geringem Umfang Teile daraus in der Originalsprache publiziert worden sind.
(S. 37 f.).
In der Tat hat auch die im Jahr 2000 auf CD-ROM veröffentlichte Ausgabe von Bakunins Gesamtwerk nur partiell Licht ins Dunkel dieser Terra Incognita der anarchistischen Geschichtsschreibung bringen können. Obwohl ihren Amsterdamer Herausgebern wohl als ersten die kompletten Mikrofilme der Dresdner Bakuninakten
aus Moskau vorlagen – das dortige Geheimarchiv war im Zuge des Zusammenbruchs des sowjetischen Herrschaftssystems erst in den 1990er Jahren geöffnet worden –, fanden erhebliche Passagen in Verkennung ihrer Wichtigkeit leider keinen Eingang in das sonst sehr verdienstvolle Projekt. Mit Nachdruck weist Eckhardt auf die dabei verpaßte Chance hin und formuliert damit implizit einen inhaltlichen Maßstab an zukünftige Publikationsvorhaben zu dieser auch für ganz Europa so einschneidenden Geschichtsperiode.
Die demokratisch-revolutionären Aufbrüche des Jahres 1848 bilden auch den historischen Hintergrund, vor dem die Auseinandersetzungen zwischen Michail Bakunin und seinem großen Widersacher Karl Marx (1818-1883) einen erstmaligen Höhepunkt erreichten. Dem auslösenden Konflikt, der über seinen unmittelbaren Anlaß hinaus auch das spätere, politisch so folgenreiche Zerwürfnis der beiden Antipoden im Rahmen der Ersten Internationale wesentlich vorstrukturieren sollte, widmet sich Eckhardt detailliert in seiner umfangreichen Studie Bakunin, Marx und George Sand. Die Affäre ›Neue Rheinische Zeitung‹ (1848)
(S. 50-141).5
Im Titel benennt er bereits die dritte Schlüsselfigur im Drama der damaligen Vorkommnisse: George Sand (Pseudonym für Amandine-Lucie-Aurore Dupin, Baronne Dudevant; 1804-1876), politisch engagierte Bestsellerautorin aus Frankreich, vorzugsweise zigarrerauchend in Männerkleidern auftretend und seit den 1830er Jahren emanzipatorische Identifikationsfigur für Radikale, Demokraten und Sozialisten in ganz Europa.
Auch am jungen Bakunin geht der Georgesandismus
(S. 50) nicht spurlos vorbei. Feinfühlig legt Eckhardt dar, wie der 28-jährige Emigrant aus Rußland spätestens seit Herbst 1842 in eine geradezu leidenschaftliche Verehrung für die Romane Sands verfällt und nicht eher ruht, bis er eineinhalb Jahre später in Paris die persönliche Bekanntschaft der berühmten Schriftstellerin gemacht hat. Es entwickelt sich eine langjährige, auf gegenseitiger Achtung und Bewunderung ruhende Freundschaft, die sich auch in Bakunins politischer Ideenentwicklung niederschlägt. Besonders anregend wirkt für ihn zweifellos das von George Sand auch persönlich verkörperte Eintreten für die vollständige Befreiung der Frau aus allen traditionellen Abhängigkeiten. Diesen Appell entfaltet Bakunin auf für ihn charakteristische Weise zu einer Grundlegung seines auf revolutionäre Veränderung abzielenden Anarchismus, wie er im Frühjahr 1845 euphorisch in einem Brief an seinen Bruder Pavel zu Papier bringt: Lieben bedeutet die Freiheit, die vollkommene Unabhängigkeit eines anderen zu wollen – der erste Akt wahrer Liebe ist die vollständige Befreiung des geliebten Objekts – man kann nur jemanden wirklich lieben, der vollkommen frei ist und unabhängig [...] auch und gerade von dem, der ihn liebt und den er selbst liebt; [...] Den Menschen befreien, das ist die einzige legitime und wohltuende Einflußnahme. – Nieder mit allen religiösen und philosophischen Dogmen! Sie sind nichts als Lügen; – die Wahrheit ist keine Theorie, sondern eine Tatsache, das Leben selbst – die Gemeinschaft freier und unabhängiger Menschen.
(S. 53 f.).
Ganz im Sinne dieser aktivistischen Thesen findet drei Jahre später die halb Europa erschütternde Revolution in Bakunin einen ihrer entschiedensten und tatkräftigsten Protagonisten – auf den Weg dorthin haben ihn neben vielen anderen Einflüssen also auch Werk und Persönlichkeit der nonkonformistischen Französin gebracht.
Um so schockierender muß es für den gänzlich ahnungslosen, in Breslau grade in voller revolutionärer Organisation begriffen[en]
(S. 72) Bakunin wirken, als er am 6. Juli 1848 in der von Karl Marx in Köln redigierten Neuen Rheinischen Zeitung (NRhZ) der Agententätigkeit für das zaristische Rußland und der Mitverantwortung für die Verhaftung polnischer Revolutionäre beschuldigt wird. Veröffentlicht in einem der meinungsbildenden Presseorgane der demokratischen Bewegung muß diese Denunziation einschlagen wie eine Bombe von geradezu perfidem Zersetzungspotential, geeignet ihr Objekt persönlich völlig zu kompromittieren: Nicht nur, daß sie die allerorten verbreiteten antirussischen Ressentiments offenbar absichtsvoll bedient. Als Pariser Korrespondenz
(S. 116) daherkommend, benennt sie als Kronzeugin für die Rufschädigung des armen Bakunin ausgerechnet die politische Ikone George Sand!
Bittere Ironie des politischen Ränkespiels: Gut vier Jahre zuvor war Bakunin in Abwesenheit von denselben zaristischen Behörden zum Verlust der Adelstitel und zur Deportation nach Sibirien verurteilt worden, für die er jetzt angeblich als Spion tätig sein soll. Und doch hätte diese kleine Zeitungsnotiz wohl genügt, ihn dauerhaft ins politische Abseits zu stellen – wenn sie nicht umgehend von derselben George Sand in einem heftigen Dementi als durch nichts gerechtfertigte Falschmeldung entlarvt worden wäre. Auch so bekannte Persönlichkeiten des demokratischen Lagers wie Arnold Ruge oder Josef Fickler legen in ihren empörten Stellungnahmen öffentlich ganz entschieden Zeugnis für die persönliche Integrität Bakunins ab. In seiner ohnmächtigen Verzweiflung droht letzterer den Verantwortlichen der NRhZ sogar an, notfalls Genugtuung mit Waffen in der Hand
(S. 82) zu verlangen.
Als Fluch der bösen Tat fällt dergestalt das ganze Schlamassel mit zunehmender Wucht auf seine Urheber zurück. Mit dem Rücken an der Wand sieht Marx schließlich keine andere Möglichkeit mehr, als in der NRhZ-Ausgabe vom 3. August 1848 namens der Redaktion den vier Wochen zuvor gegen Bakunin erhobenen Vorwurf mit einer doch eher lauen Erklärung kleinlaut wieder fallen zu lassen. Letztlich handelt es sich hierbei um einen in dürre Worte gefaßten Rationalisierungsversuch, der den Abdruck der obskuren Pariser Korrespondenz
im nachhinein zu nichts weniger als einem unabweisbaren Akt journalistischen Pflichtbewußtseins verklärt.
Alles also nur ein Sturm im Wasserglas, losgetreten durch einen unglücklichen Zusammenfall äußerer Umstände? Skeptisch stimmt aus heutiger Sicht allein schon die aggressive Vehemenz, mit der Marx bis ans Lebensende in seinem propagierten Selbstbild auf der »objektiven Notwendigkeit« seines damaligen Tuns beharrte. Es verwundert nicht, daß die auf seine Person fixierte Geschichtsschreibung – ganz ihrem Charakter als Legitimationswissenschaft entsprechend – diese zweifelhafte Interpretation weitgehend unhinterfragt übernahm. Psychologisch interessant ist dabei aber wiederum, wie geradezu zwanghaft sie sich in eine prophylaktische Abwehr selbst leisester Anklänge eines Verdachtes hineinsteigert, bei der üblen Kolportage gegen Bakunin hätten eventuell persönliche Motivationen oder Voreingenommenheiten ihres Säulenheiligen eine Rolle spielen können. Tritt hier unbewußt das schlechte Gewissen über die Haltlosigkeit der eigenen Argumentation zu tage? Die kleine Auswahl von Stilblüten, die Eckhardt diesbezüglich aus dem Lager der Marxologie
(S. 113) zusammenträgt, wirkt verräterisch.
Genau an diesem Punkt hakt seine eigene Untersuchung ein. Sie stellt die Affäre Neue Rheinische Zeitung
(S. 108) durch den analytischen Einbezug ihrer diversen Vor- und Nachspiele von vornherein in einen größeren Zusammenhang, aus dem heraus sich ihre tieferen Hintergründe und späteren Folgewirkungen erst verläßlich entschlüsseln lassen. Dies geschieht zielbewußt und unter Erschließung neuer Originalquellen wie immer bei Eckhardt auch ungeheuer materialreich. Neben dem Abdruck der relevanten zeitgenössischen Presseartikel werden im dokumentarischen Anhang u.a. sieben Briefe von, an oder über Bakunin erstmalig in deutscher Übersetzung verfügbar gemacht.
Gerade in Bakunin, Marx und George Sand
entfaltet die Darstellung hierdurch eine historische Bandbreite, Anschaulichkeit und Überzeugungskraft, neben der sich eine kursorische Zusammenfassung ihrer wichtigsten Stationen und Ergebnisse, wie sie hier allein möglich ist, zugegebenermaßen recht dürftig ausnehmen muß. Sie soll im folgenden trotzdem versucht werden – in der Hoffnung, Lust auf Lektüre des Originals zu erwecken.
So gelingt Eckhardt eine atmosphärisch sehr plastische Einführung in die vormärzliche Szene deutscher Emigranten in Paris, einem von persönlichen Animositäten und paranoidem Konkurrenzdenken keineswegs freien Mikrokosmos, in dem sich Marx und Bakunin im Frühjahr 1844 erstmals persönlich begegneten. Schon damals prallten ihre gegensätzlichen Naturelle nach kurzer Zeit aufeinander – eine Art Urknall, von dem sich ihre gegenseitigen Beziehungen im Grunde niemals mehr erholen sollten. Bakunin erinnerte sich knapp dreißig Jahre später wie folgt an diese ersten Auseinandersetzungen: Unsere Temperamente vertrugen sich nicht. Er nannte mich einen sentimentalen Idealisten, und er hatte recht; ich nannte ihn einen perfiden und tückischen eitlen Menschen, und ich hatte auch recht.
(S. 58).
Weiteres Konfliktpotential begann sich zweifellos da schon über eine für den westeuropäischen Zeitgeist typischen »Russophobie« (S. 147) anzustauen, die sich bei Marx in ihren schlimmsten Auswüchsen bis ans Rassistische steigern konnte und dementsprechend hinter jedem russischen Emigranten qua Volkszugehörigkeit
einen zaristischen Spion auszumachen geneigt war.6
So mutet es fast schon wie eine self-fulfilling prophecy
an, daß Friedrich Engels (1820-1895) – seinem Freund und Kampfgefährten Marx in unverbrüchlicher Nibelungentreue verbunden – bereits im Herbst 1846 in sich überschlagendem Denunziationseifer erstmals die Mär von Bakunin als Agenten Rußlands in die Welt setzte. Auch wenn Engels schon ein Vierteljahr später zähneknirschend eingestehen mußte, daß die Grundlage seiner damals noch intern kolportierten Verschwörungstheorie eine simple Namensverwechslung gewesen war, die er sich von Dritten hatte aufbinden lassen – der Generalverdacht gegen Bakunin war zwischen ihm und Marx einmal ausgesprochen und wartete fortan nur noch darauf, erneut mobilisiert zu werden.
Das Faß zum Überlaufen brachten schließlich zwei handfeste Konflikte in Fragen der revolutionären Taktik, die sich im wesentlichen an dem politischen Hegemonieanspruch entzündeten, den Marx und Engels für ihren Bund der Kommunisten und für die von ihm gesteuerten Emigrantenorganisationen verwirklicht sehen wollten. Erstmals widersetzte Bakunin sich diesem autoritären Ansinnen im Dezember 1847 in Brüssel durch seine demonstrative Weigerung, der von Marx favorisierten, ihm selbst aber aufgrund ihrer bourgeoisen Umgangsformen zutiefst verhaßten Deutschen Arbeiter-Gesellschaft beizutreten. Ein zweites Mal stellte Bakunin die Unfehlbarkeit von Marx im April 1848 während ihres Zusammentreffens in Köln zur Disposition, indem er sich diesem gegenüber offen für die Deutsche demokratische Gesellschaft seines Freundes Georg Herwegh (1817-1875) und deren Plan aussprach, in Paris eine Freiwilligen-Legion deutscher Emigranten zu bewaffnen und zur Unterstützung der Revolution nach Deutschland in Marsch zu setzen. Nun gehörte Marx freilich mit dem Klub der deutschen Arbeiter einer zeitgleich gegründeten Konkurrenzgruppierung an, die sich – wie Friedrich Engels als sein Sprachrohr rückblickend resümierte – dieser Revolutionsspielerei aufs entschiedenste [widersetzte]
(S. 69). Pech für Bakunin, den Marx innerlich nun endgültig zum Abschuß freigab. Seine zwischenzeitliche Ernennung zum Redakteur en chef
(S. 72) bei der NRhZ sollte ihm schon bald die erforderlichen Machtmittel in die Hand geben ...
In diese Ereignisfolge gestellt, enthüllt sich als treibendes Motiv für den knapp zwei Monate später erfolgten Abdruck der Pariser Korrespondenz
banalerweise der wutschnaubende Zorn von Marx, gespeist aus der Kränkung seiner überempfindlichen, ins Politisch-Organisatorische hinein verlängerten Eigenliebe. Und Zorn macht bekanntlich blind, besonders wenn er auch noch ressentimentgeladen daherkommt. Anders läßt sich kaum die Kurzschlüssigkeit erklären, mit der Marx und Engels die erstbeste, ihnen zu Ohren kommende Einflüsterung Bakunin betreffend als Munition für einen publizistischen Schnellschuß meinten verwenden zu können. Als ihren willkommenen Stichwortgeber rekonstruiert Eckhardt mit detektivischem Spürsinn den in der französischen Hauptstadt weilenden Hermann Ewerbeck, den Marx und Engels bezeichnenderweise selbst im allgemeinen als wichtigtuerischen Schwadroneur einschätzten. Auch die keiner tiefergehenden Prüfung standhaltende Kurzbeinigkeit der Ewerbeck-Marx-Engels’schen Lügengeschichte um die Bakunin angeblich kompromittierenden und sich im Besitz von George Sand befindlichen Geheimpapiere zerlegt Eckhardt in aller Ausführlichkeit. Sein Resümee läßt nicht an Deutlichkeit zu wünschen: So teilte die ›Pariser‹ Korrespondenz merkwürdigerweise Dinge mit, die sich nicht in Paris abgespielt haben können und die von einer profunden Unkenntnis über die Beteiligten zeugen.
(S. 76).
Daß ihr unmittelbares Resultat für die NRhZ ein formidabler Reinfall war, überrascht daher kaum. Eine journalistische Eintagsfliege ohne langfristige Folgewirkungen blieb die »Affäre Neue Rheinische Zeitung« deswegen aber noch lange nicht. Während der folgenden Jahrzehnte sollte sie im öffentlichen Diskurs der sozialistischen Opposition immer wieder als Projektionsfläche für historische Rückbezüge und aktuelle Positionsbestimmungen herhalten, was vom untergründigen Fortwirken der unaufgehobenen Spannungen zeugte, die sich in ihr erstmalig entladen hatten. Somit verhärtete das periodische Aufflakkern der diesbezüglichen Debatte die bestehenden Fronten eher noch weiter, als daß es in aller Öffentlichkeit zu einer abschließenden Klärung des wirklichen Sachverhaltes geführt hätte. Dies zeigt Eckhardt, indem er schildert, wie Marx in seinen öffentlichen Polemiken der Jahre 1853 (gegen Alexander Herzen, Ivan Golovin und Arnold Ruge) und 1860 (gegen Ferdinand Lassalle) das Thema Pariser Korrespondenz
zur wiederholten Selbstlegitimation jedesmal erneut aufgriff und damit unter der Hand seinen Mythos von Bakunin und dessen Freunden als »irgendwie« anrüchig-zweifelhaften Gesellen zugleich weiterstrickend forttradierte. Ganz nach dem Motto: Auch von der fadenscheinigsten Denunziation bleibt etwas hängen, wenn nur oft genug die Sprache darauf kommt!
Auf eine willfährig-positive Resonanz konnte Marx zu dieser Zeit bereits bei den schlecht unterrichteten Sozialisten in Deutschland rechnen. Von anderen Informationsquellen weitgehend abgeschnitten, wurden diese spätestens seit der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation im Jahre 1864 vom anarchistischen Sozialismuskonzept Bakunins allein durch den unsachlich-tendenziösen Zerrspiegel der mehr oder weniger Confidentiellen Mittheilung[en]
(S. 109) ihres etatistisch gesinnten Übervaters Karl Marx unterrichtet. Dessen wüste Beschimpfungen bereiteten das Klima für das Dritte Nachspiel
(S. 108) der Affäre Neue Rheinische Zeitung
: Am 4. September 1872 titulierte ein Beitrag im Leipziger Volksstaat – dem Organ der sozial-demokratischen Arbeiterpartei – Bakunin unter Bezugnahme auf die gut 28 Jahre alte Pariser Korrespondenz
mit vollem Ernst als schweifwedelnden Agenten Rußlands resp. des Czaren
(S. 112).
Gerade in Deutschland hatte Marx im Vorfeld seines vermeintlich entscheidenden Schlages gegen die von Bakunin repräsentierte Bewegung des libertären Sozialismus ganze Arbeit geleistet. Und das – wie Eckhardt ausblickend feststellt – mit fatalen politischen Folgen für die zukünftige Entwicklung radikaler Opposition im Lande: Als der Konflikt in der Internationale vor dem Haager Kongreß im Jahre 1872 seinen Höhepunkt erreichte, waren die solchermaßen von einer ›chinesische[n] Mauer‹ umgebenen deutschen Sozialisten daher überzeugt, es handle sich nicht um eine Weichenstellung in der Ideengeschichte des Sozialismus, sondern um die Abwehr intriganter Unruhestifter
(S. 110).
Der Ende 1868 eingesetzten Genese dieses Konfliktes und ihrer näheren Begleitumstände widmet sich Eckhardt in der letzten Abhandlung seines Buches. Sie trägt den Titel Bakunin und Johann Philipp Becker. Eine andere Perspektive auf den Beginn der Auseinandersetzung zwischen Marx und Bakunin in der Ersten Internationale
(S. 142-206).7
Einen qualitativ neuen Zugang verschafft sich Eckhardt, indem er mit Johann Philipp Becker (1809-1886) einen historischen Akteur ins Zentrum seiner Untersuchung stellt, dessen in vielerlei Hinsicht schwerwiegende Schlüsselrolle bei der Eskalation der Ereignisse von der bisherigen Geschichtsschreibung bislang nur stiefmütterlich behandelt wurde.
Daß die Kontroverse zwischen den auseinanderstrebenden Ideensystemen von Marxismus und Anarchismus die sachlich bestimmte Verlaufsform eines um Inhaltsklärung bemühten Diskurses annehmen würde, war bei dem vorbelasteten Verhältnis ihrer Protagonisten von vornherein nicht zu erwarten. Eckhardt zeigt nun, wie Becker in dieser prekären Situation nicht nur von einem Lager ins andere überwechselte, sondern darüber hinaus mit seinen persönlichen Initiativen ein ums andere Mal die brennende Lunte an das explosive Emotionsgemisch aus persönlichen Animositäten, verletzten Eitelkeiten, unbefriedigtem Machtstreben und kaum vernarbten alten Wunden legte – und das von beiden Seiten der Kampflinie aus mit gleich nachhaltiger Wirkung! Nicht zuletzt waren es Beckers Aktionen, die dem diesmaligen Aufeinanderprall von Marx und Bakunin jene Destruktionskraft verliehen, an deren Entladung schließlich auch der 1864 so hoffnungsvoll begonnene, historisch erste Versuch einer strömungsübergreifenden Organisierung der internationalen Arbeiterbewegung zerbrechen sollte.
Die knapp drei Jahre währende Parteinahme des deutschen ’48er-Veteranen Becker für Bakunin und seine Freunde hatte mit ihrer ersten Begegnung auf dem Gründungskongreß der Internationalen Friedens- und Freiheitsliga Anfang September 1867 in Genf begonnen. Grundlage der gegenseitigen Sympathie dürfte das zu jener Zeit ähnlich gelagerte revolutionäre Temperament beider gewesen sein. Jedenfalls schloß Becker sich ein Jahr später der sozialrevolutionären Minderheit an, die auf Initiative Bakunins aus der Friedens- und Freiheitsliga ausgetreten war und ihrerseits mit der L’Alliance internationale de la Démocratie Socialiste eine eigenständige öffentliche Organisation ins Leben gerufen hatte – letzteres gegen das Votum Bakunins, der voraussah, daß ein solcher Schritt als unerwünschte Konkurrenz zur Internationale angesehen werden könnte.
Schon der erste Versuch einer offiziellen Kontaktaufnahme sollte seine schlimmsten Befürchtungen bestätigen, entscheidend befördert allerdings von der offen zur Schau gestellten Selbstgefälligkeit und politischen Instinktlosigkeit Johann Philipp Beckers. Als Mitglied ihres Genfer Zentralbüros hatte dieser sich im Namen der Alliance am 29. November 1868 schriftlich an den Londoner Generalrat der Internationale mit einem Aufnahmegesuch gewandt, dessen wesentliche Botschaft im überheblichen Dünkel einer selbsternannten revolutionären Avantgarde bestand. So heißt es in dem von Wolfgang Eckhardt erstmals in vollem Wortlaut zugänglich gemachten Dokument ganz unverblümt, die Alliance sei angetreten, um noch rechtzeitig etwas gesunden Idealismus und revolutionäre Energie in die Bewegung auf dem Kontinent zu bringen. Fing es doch schon an für energischere Naturen höchst langweilig zu werden.
(S. 205)
Inhaltlich in keinster Weise von seinen Alliance-Mitstreitern autorisiert, mußte Becker mit derartigen Anwürfen aufs Vortrefflichste das eifersüchtige Mißtrauen bedienen, mit dem Marx und Engels für den Generalrat aus ihrem englischen Exil heraus die Alliance-Gründung und die damit verbundenen Aktivitäten ihres bevorzugten Haßobjektes Bakunin verfolgt hatten. Fatalerweise sollte sich auf diese Weise der eigenmächtig verfaßte Brief Beckers in der überspringenden Reaktion von Marx und Engels zur »Initialzündung« (S. 142) einer finalen Verschwörungstheorie auswachsen. Nach deren paranoider Logik war es ab sofort ausgemacht, daß es sich bei der Alliance ebenso wie bei allen zukünftigen Unbotmäßigkeiten gegen die von Marx federführend gesteuerte Generalrats-Linie um eine »russische Intrige« (S. 158) Bakunins im Kampf um die politische Führung der Internationale handelte. Den psychologischen Gehalt dieser Projektion arbeitet Eckhardt wie folgt heraus: Es mutet bizarr an, mit welcher Leichtigkeit sich Marx und Engels in diese Verschwörungstheorie hineingesteigert haben [...]. Marx reagierte mit dem sensiblen Instinkt des Machtpolitikers. Inhaltlich hat sich Marx mit Bakunins Vision eines herrschaftslosen Sozialismus kaum auseinandergesetzt und erklärte das mit der Begründung des Anarchismus formulierte andere Sozialismuskonzept Bakunins schlicht für Unsinn [...]. Wenn aber seine Ideen keine Bedeutung hätten, folgerte Marx, so müsse es Bakunin allein um Macht gehen
(S. 166).
Daß schließlich auch die in Abstimmung mit dem Generalrat erfolgte und von Bakunin selbst unterstützte Auflösung der Alliance als internationaler Organisation die aufgeschreckten Gemüter keineswegs beruhigen konnte, versteht sich nach dem Gesagten fast von selbst. Bekanntlich gehört die Immunität gegen empirische Infragestellung zu den wesentlichen Charakteristika zwanghafter Wahnsysteme. So auch in diesem Fall: Wo Bakunin nicht selbst als handelnde Person offen in Erscheinung trat, wurde er von den beiden erhabenen Begründern des »wissenschaftlichen Sozialismus« in kurzschlüssigem Reflex mit der vielleicht noch gefährlicheren Rolle des geheimen Drahtziehers identifiziert, der für seine infamen Manöver ihm hörige Marionetten vorschiebt.
In stereotyper Übertragung ihrer verzerrten Interpretation des Alliance- Briefes hatten Marx und Engels nun auch einen Sündenbock gefunden, den sie öffentlich in aller Heftigkeit als Urheber der politischen Eskapaden Beckers denunzieren konnten – Daß der fette Bakunin dahintersitzt, ist ganz klar
(S. 162), auch wenn dieser in realiter keinerlei Anteil hatte. Dies zeigt Eckhardt in aller Ausführlichkeit anhand der Auseinandersetzungen um Beckers parteikritische Denkschrift an den Eisenacher Kongreß
(S. 166) vom August 1869 und in der Analyse seiner umstrittenen Rolle in der Égalité-Affäre
(S. 172) von November/Dezember 1869.
Offensichtlich zermürbt durch die ständigen Anwürfe aus London leitete Becker allerdings schon im Frühjahr 1870 eine persönliche Kehrtwende mit so tiefgreifenden Konsequenzen ein, das sie wohl am ehesten durch das psychoanalytische Konzept der Identifikation mit dem strafenden Aggressor beschrieben werden kann. Im reuigen Bemühen, sich beim Generalrat wieder zu rehabilitieren, fand Becker sich spätestens nach der Spaltung der Romanischen Föderation im April 1870 ganz vorn in antibakunistischer Front ein. Nicht allein, daß er sich nun seinerseits mit der für sein Naturell konstitutiven Brachialität in den wüstesten Beschimpfungen des kurz zuvor von ihm noch bewunderten Bakunin erging. Darüber hinaus engagierte er sich beispielsweise auch ganz aktiv für die Aufnahme der russischen Sektion des Bakunin-Hassers Utin (1841-1883) in die Internationale. Daß er jedoch im Mai 1872 in einem Brief an Friedrich Engels seiner Bereitschaft willfährigen Ausdruck verschuf, zur Mehrheitsbeschaffung beim nächsten Kongreß der Internationale notfalls auch Mandatszettel für die Zusammensetzung der Delegierten zu fälschen, stellte wohl den Gipfelpunkt seines vorauseilenden Gehorsams dar, mit dem er sich Ablaß für seine vergangenen Sünden als Parteigänger Bakunins zu verschaffen hoffte.
Bekanntlich hatte der Generalrat auf dem allgemeinen Kongreß der Internationale im September 1872 für eine Mehrheit der marxistischen Fraktion dann allein schon durch die Festlegung von Den Haag als Tagungsort Sorge getragen und damit die von Bakunin zu diesem Anlaß auf paritätischer Basis projektierte inhaltliche Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Anarchismus von vornherein unterlaufen. Vorbereitet durch denunziatorische Zirkulare und willkürlich zusammengesetzte Untersuchungskommissionen unter der Federführung von Marx und Engels beschloß der Haager Kongreß schließlich den Ausschluß von Bakunin und seinem bekannten Mitstreiter James Guillaume aus der Internationale. Auch bei dieser entscheidenden Abstimmung hatte sich Becker als zuverlässige Stütze von Marx und Engels erwiesen.
Die innerhalb weniger Jahre drastisch zutage tretende Diskrepanz zwischen Johann Philipp Becker als ehemaligem Aktivisten der Alliance und Mitglied all ihrer zentralen Gremien auf der einen und dem späteren Bakuninfresser und Parteigänger von Marx auf der anderen Seite hat Eckhardt in aller Deutlichkeit herausgearbeitet. Auch hiermit geht er wiederum über den gängigen Stand der Forschung hinaus, da dieser biographische Widerspruch in der Mehrzahl der Becker-Studien der letzten Jahrzehnte – der marxistischen zumal – faktisch ausgeblendet wurde. Wie Eckhardt zeigt, war dadurch aber ein wichtiger Blickwinkel auf den Konflikt zwischen Marx und Bakunin bzw. zwischen autoritärem und libertärem Sozialismus im Rahmen der Ersten Internationale bislang verstellt.
Auch vor diesem Hintergrund können wir uns abschließend nur dem kürzlich veröffentlichten Fazit von Jochen Knoblauch anschließen: Wenn die Chancen um die Bakuninforschung in Deutschland heute gut stehen, dann liegt das sicher zum Einen an den politischen Verhältnissen, die heute mehr Archive öffnen, als vielleicht noch zu Zeiten des Kalten Krieges, und zum Anderen an einem Forscher, der nicht locker läßt, und dessen Akribie sprichwörtlich ist: Wolfgang Eckhardt.
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Seinem Sammelband Von der Dresdner Mairevolution zur Ersten Internationale. Untersuchungen zu Leben und Werk Michail Bakunins
sind weite Verbreitung und viele Neuauflagen von Herzen zu wünschen. Vielleicht könnten zu diesem Anlaß dann auch die noch nicht übersetzten fremdsprachigen Zitate ins Deutsche übertragen werden. Es würde die Zugänglichkeit von Eckhardts Studien noch mehr erhöhen – ein allemal lohnendes Unterfangen!
Markus Henning
* * *
1 Von den »Ausgewählten Schriften« Michael Bakunins, hrsg. von Wolfgang Eckhardt, sind bis heute (Stand: August 2006) die folgenden Bände erschienen: Band 1: Gott und der Staat (1871); Band 2: ›Barrikadenwetter‹ und ›Revolutionshimmel‹ (1849). Artikel in der ›Dresdner Zeitung‹; Band 3: Russische Zustände (1849); Band 4: Staatlichkeit und Anarchie (1873); Band 5: Konflikt mit Marx. Teil 1: Texte und Briefe bis 1870 (Berlin 1995 ff.). Des weiteren sind in diesem Zusammenhang noch zu nennen und unbedingt zu empfehlen: Wolfgang Eckhardt: Michail A. Bakunin (1814-1876). Bibliografie der Primär- und Sekundärliteratur in deutscher Sprache. Berlin, Köln 1994; sowie Michael Bakunin: Die revolutionäre Frage. Föderalismus, Sozialismus, Antitheologismus. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt, hrsg. von Wolfgang Eckhardt. Münster 2000 (2. Auflage: 2005).
2 Eine frühere Version erschien in: Lexikon der Anarchie. Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l’anarchie. Hrsg. von Hans Jürgen Degen. 4. Ergänzungslieferung. Bösdorf 1996, 10 Seiten (Loseblattsammlung).
3 Ursprünglich war dieser Beitrag erschienen in: IWK. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 36. Jg., Heft 1, März 2001, S. 117-124.
4 Eine frühere Version dieses Beitrages war erschienen in: Dresden, Mai 1849. Wissenschaftliche Tagung ›Mai 1849, Barrikaden in Dresden – Ursachen, Akteure, Ziele‹ am 7. und 8. Mai 1999 in Dresden
. Hrsg. von Karin Jeschke und Gunda Ulbricht. Dresden 2000, S. 58-70.
5 Hierbei handelt es sich um eine vom Verfasser durchgesehene und aktualisierte Fassung des Artikels, der vier Jahre zuvor erschienen war in: IWK. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 37. Jg., Heft 3, September 2001, S. 281-369.
6 Hierfür weiß Eckhardt vielfältige Belege anzuführen und wird dabei im übrigen auch von den grundlegenden Arbeiten Maximilien Rubels über das Verhältnis von Marx und Engels zur russischen Revolution gestützt. So schreibt Rubel für den hier interessierenden Zeitraum: Bis zum Jahre 1858 scheint Rußland für Karl Marx mit der Autokratie und Welteroberungspolitik des Zarismus identisch zu sein, gerade so, als ob ein russisches Volk und eine russische Gesellschaft für ihn überhaupt nicht existierten.
(Maximilien Rubel [Hrsg.]: Karl Marx und Friedrich Engels zur russischen Revolution. Kritik eines Mythos. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1984, S. 13).
7 Eine frühere Version war erschienen in: IWK. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 35. Jg., Heft 1, März 1999, S. 66-122.
8 Jochen Knoblauch: Die Bücher in Bakunins Koffer. In: espero. Forum für libertäre Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, 13. Jg., Nr. 48, Juni 2006, S. 24 f.
Die 1864 in London entstandene Internationale Arbeiter-Assoziation (»Erste Internationale«) war eine Gründung der Arbeiterbewegung, die damals weder ideologisch geschlossen noch geteilt noch doktrinär festgelegt war. Neben liberalen und christlichen Vorstellungen begannen auch sozialistische Ideen in ihr Fuß zu fassen. Sie ganz auf einen sozialistischen Kurs zu bringen war somit ein Anliegen jener sozialistischen Aktivisten und Intellektuellen, die in der IAA ein Betätigungsfeld sahen, während zugleich innersozialistische Differenzen aufbrachen.
Im Oktober 1868 ließ sich Michael Bakunin in Genf nieder. Zuvor hatte er sich in der bürgerlich-demokratischen »Friedens- und Freiheitsliga« engagiert, war allerdings ausgetreten, als diese seine egalitären Ideen zurückwies. Nunmehr wandte er sich der Genfer Arbeiterschaft zu und gewann in der klassenkämpferischen Stimmung, die dort nach einem erfolgreichen Bauarbeiterstreik herrschte, rasch an Einfluss.
Die Stadt hatte damals etwa 60.000 Einwohner, davon 40 % Ausländer, wobei in den örtlichen Sektionen der Internationale schätzungsweise 2000-3000 Arbeiter organisiert waren. In der Mehrzahl waren das im Baugewerbe tätige Ausländer, während die 500 Mitglieder mit Genfer Bürgerrecht überwiegend in der Luxusindustrie, als Uhrmacher, Goldschmiede und in anderen feinmechanischen Gewerben beschäftigt waren. Das Uhrmacher- und Juweliersgewerbe, die sog. »Fabrique«, hatte sich seit dem späten 16. Jahrhundert in Genf ausgebreitet und war im Laufe des 18. Jahrhunderts der wichtigste Zweig der Genfer Wirtschaft geworden.
Neben der Internationale hatten die Uhrmacher ihre eigenen berufsständischen Organisationen, die über ein halbes Jahrhundert alt waren. 1841 hatten sie sich mit der radikaldemokratischen Partei geeinigt, gemeinsam mit ihr 1846 das alte Genfer Patriziat gestürzt, und auch in der Folgezeit mit ihr kooperiert. Um diese Zeit fiel auch die Stadtmauer, woraufhin die Stadt sich rasch vergrößerte und tausende ausländischer Bauarbeiter in die Region kamen. Zwischen ihnen und den Uhrmachern bestand ein starker Gegensatz hinsichtlich der politischen Rechte und der wirtschaftlichen Lage, jedoch ließ die »Fabrique« in Folge einer Krise im Uhrengewerbe nach 1866 diesen Gegensatz hinter sich und unterstützte 1868 einen Streik im Baugewerbe, der erfolgreich ausging, als die konservative Stadtregierung die Arbeitgeber zum Kompromiss drängte. Den Zweck, damit die Allianz der Uhrmacher mit den Radikaldemokraten aufzusprengen, verfehlte die Regierung allerdings.2
Diese Uhrmacher waren Bakunin, ebenso wie vielen anderen Emigranten der 1860er und 1870er Jahre, die in Genf unterkamen, ein Dorn im Auge. Rückblickend schrieb er: Die eigentlich genferischen Arbeiter gehen wie Herren angezogen und lieben, sich den Anstrich von Herren zu geben. Sie sind in ihrer Seele Bourgeois [...] gebildeter, mehr an das politische Leben und öffentliche Diskussionen gewöhnt und viel besser organisiert als die Arbeiter der Baugewerbe, [...] spielten sie natürlich bald die erste Geige in der Genfer Internationale [...]. Dies mußte verhindert werden: die Internationale durfte nicht ein Werkzeug in den Händen einer bürgerlichen politischen Partei werden. [...] Zu diesem Zweck wurde im Oktober 1868 in Genf die Sektion der Allianz der sozialistischen Demokratie geschaffen. Ihr Hauptzweck war der, den Arbeitern der Baugewerbe eine Organisation zu geben, die den ehrgeizigen Intrigen der Genfer Bürger die Stirn bieten konnte. – Ihr Programm grub einen Abgrund zwischen der internationalen Politik des Proletariats und der nationalen und patriotischen Politik all und jeder Bourgeoispartei. Aus demselben Grunde hielt ihr Reglement die Autorität des Generalrats, des Vertreters der Internationale, hoch gegenüber den eng nationalen und reaktionären Tendenzen, die in der Genfer Föderation herrschten.
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Zunächst traf Bakunin auf wenig Widerstand. Im Gegenteil, als sich im Januar 1869 die Sektionen der Internationale in der Westschweiz zu einer »Romanischen Föderation« vereinigten, schrieb er deren Programm und wurde Redakteur in ihrer Zeitschrift ›Egalité‹ (›Gleichheit‹). Um diesen Titel gab es eine heftige Auseinandersetzung, die Bakunin für sich entscheiden konnte, und es wurde auch eine Redaktion gebildet, die ganz im Sinne dieses Titels schrieb. »Diese Kämpfe,« erklärte er in einem späteren Bericht über die »Alliance«, und noch mehr das Erscheinen der ›Egalité‹, die von Woche zu Woche sozialistischer und revolutionärer wurde, trugen außerordentlich viel zur Entstehung der wenig freundlichen Beziehungen zwischen den beiden Parteien bei, die nunmehr die Genfer Internationale unter sich teilten.
4 Im Sommer 1869 übernahm Bakunin vorübergehend die Redaktionsleitung, und erreichte nach eigenen Worten, dass der sich täglich mehr erweiternde Abgrund
5 noch tiefer wurde.
Während die Stärke der Uhrmacher in den Gremiendiskussionen zutage trat, setzte Bakunin auf die größeren Versammlungen, auf denen die Mehrheit der Bauarbeiter den Ausschlag gab. Ihren Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen bei der Vorbereitung des nächsten Kongresses der Internationale, der im September 1869 in Basel stattfinden sollte.
Bakunins »Alliance« hatte im Frühjahr, nachdem sie in die Internationale aufgenommen worden war, für den kommenden allgemeinen Kongress eine Diskussion über das Erbrecht vorgeschlagen. Der Generalrat hatte dies akzeptiert und das Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Die Genfer Arbeiter bildeten für sämtliche Themen, die auf dem Kongress debattiert werden sollten, Vorbereitungs- Kommissionen, jedoch nicht für die ihnen unsympathischen Fragen des Erbrechts und des Kollektiveigentums.
Nun verlangte Bakunin im August Kommissionen auch für diese Fragen und setzte sich auf einer allgemeinen Versammlung durch (die Bauarbeiter waren seit dem Tag vorher sorgfältig von unseren ›Alliierten‹ zusammengerufen und hatten sich massenhaft eingefunden
6 ) Bakunin wurde Vorsitzender bei der Erbrechtskommission, und sein Mitstreiter Robin bei der Kollektiveigentums-Kommission. In der folgenden Sitzung wurde versucht, die beiden Themen wieder zu streichen, worauf sich eine interessante Debatte erhob, in der die Vertreter der »Fabrique« an die Bauarbeiter um Unterstützung appellierten mit Hinweisen auf Einigkeit und Dankbarkeit aufgrund ihrer Hilfe bei dem berühmten Streik vom Vorjahr. Bakunin und seine Freunde erklärten in ihrer Antwort, Dankbarkeit und Einigkeit seien ohne Zweifel sehr schöne Dinge, aber sie dürften nicht zur Knechtung führen, und es sei besser, sich zu trennen, als Sklave zu werden.
7 Die Kommissionen wurden mit ungeheurer Majorität
beibehalten.
Das Ziel der Kollektivierung der Produktionsmittel war zwar schon auf dem vorangegangenen Kongress in Brüssel beschlossen worden, stieß aber vielerorts noch auf starke Vorbehalte. Insbesondere in der Westschweiz war die Bewegung des Arztes Pierre Coullery einflussreich, welcher das Privateigentum aus Gründen der individuellen Freiheit hochhielt. (Coullery vertrat eine eklektische Position, die hauptsächlich von Proudhon, aber auch von Bastiat und von christlichen Vorstellungen beeinflusst war).
Coullery hatte in der Internationale an Ansehen verloren, nachdem er bei Wahlen erfolgreich mit der konservativen Partei kooperiert hatte, was Bakunin ausnützte, indem er ihn – ohne Belege dafür zu haben – als Konservativen verleumdete. Er solle die Internationale doch verlassen: Gerade diese beiden Resolutionen des Brüsseler Kongresses [über das Kollektiveigentum und den freien Kredit] empörten alle bourgeoisen Instinkte des Herrn Coullery und machten ihm begreiflich, daß zwischen ihm und der internationalen Arbeiterassoziation keine Gemeinsamkeit bestehen könne« – was Coullery, der keineswegs austrat, wohl nicht so klar gewesen ist –, denn »[...] wir finden in den Erwägungsgründen der allgemeinen Statuten die Erklärung, daß die Emanzipation der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein müsse, was, im Zusammenhang mit den folgenden Erklärungen, bedeutet, daß die Internationale Arbeiterassoziation absolut alle aus ihrer Mitte weist, welche dort einen anderen Zweck verfolgen wollten als den der vollständigen und definitiven Emanzipation der Arbeiter, – das heißt die Gleichheit, und daß, wenn sie ausnahmsweise Bourgeois aufnimmt, dies nur unter der Bedingung geschieht, daß sie in aller Aufrichtigkeit, von ganzem Herzen, sich dem Programm der Arbeiter anschließen und auf alle persönliche und lokale Politik verzichtend von da an nur die einzige und große Politik der Internationale verfolgen [...]
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In Genf hatten die Sektionen hingegen seinerzeit den Beschluss zum Kollektiveigentum gebilligt. Auch der neuerliche Kommissionsbericht darüber wurde akzeptiert, ebenso wie Bakunins Bericht über die Abschaffung des Erbrechts, die somit an den Kongress zur Diskussion und Entscheidung gingen. Dort traf Bakunins Bericht auf eine Gegenposition, die Marx für den Londoner Generalrat formuliert hatte.
Marx kam in seinem Bericht (geschrieben am 2./3. August 1869) sogleich auf einen seiner Hauptpunkte zu sprechen: Das Recht der Erbschaft ist nur insofern von sozialer Wichtigkeit, als es dem Erben die Macht, welche der Verstorbene während seiner Lebenszeit ausübte, hinterläßt, nämlich die Macht, vermittelst seines Eigentums die Früchte fremder Arbeit auf sich zu übertragen [...] Wie jede andere bürgerliche Gesetzgebung sind die Erbschaftsgesetze nicht die Ursache, sondern die Wirkung, die juristische Folge der bestehenden ökonomischen Organisation der Gesellschaft, die auf das Privateigentum in den Mitteln der Produktion begründet ist.
Daher sei es falsch
und reaktionär
, die Aufhebung des Erbschaftsrechts als den Ausgangspunkt der sozialen Revolution zu proklamieren
, denn dies würde nur die Arbeiterklasse von dem wahren Punkt der Aufmerksamkeit für die heutige Gesellschaft ablenken
, auf den sie, kann man wohl ergänzen, die marxistische Doktrin zuverlässig hinwies.
Sofern eine solche Ablenkung nicht erfolgen würde, könne man jedoch durchaus über Änderungen des Erbrechts zu Beginn der »sozialen Revolution« reden:
Alle Maßregeln in betreff des Erbschaftsrechtes können sich daher nur auf einen Zustand des Übergangs beziehen, wo auf der einen Seite die gegenwärtige ökonomische Grundlage der Gesellschaft noch nicht umgestaltet ist, aber auf der andern Seite die arbeitenden Massen Kraft genug gesammelt haben, Übergangsmaßregeln durchzusetzen, die geeignet sind, schließlich einen radikalen Wechsel der Gesellschaft zuwege zu bringen. [...] Diese Übergangsmaßregeln in betreff der Erbschaft können nur sein:
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a) Erweiterung der Erbschaftssteuern, die bereits in vielen Staaten bestehen, und in der Anwendung der dadurch erhaltenen Fonds zu dem Zwecke der sozialen Emanzipation.
b) Beschränkung des testamentarischen Erbschaftsrechts, weil es im Unterschied vom untestamentarischen oder Familienerbrecht als willkürliche und abergläubische Übertreibung der Grundsätze des Privateigentums selbst erscheint.
Bakunin sah wie Marx das Erbrecht als Folge des Privateigentums an. Wo Marx von der Macht, vermittelst seines Eigentums die Früchte fremder Arbeit auf sich zu übertragen
, formuliert Bakunin: befreit vom Zwang zu arbeiten um zu leben, wird diese Klasse [welche Grundbesitz und Kapital monopolisiert] weiter existieren, und dadurch, daß sie allein über Grundbesitz und Kapital verfügt, wird sie die Arbeit weiter unterdrücken, von der sie die Grundrente und den Kapitalzins erhebt.
(S. 174) Und wo Marx erklärt, die bürgerliche Gesetzgebung sei nicht die Ursache, sondern die juristische Folge der ökonomischen Organisation der Gesellschaft, meint Bakunin, kein politisches und juristisches Gesetz [könne] bei aller Strenge diese Herrschaft und Ausbeutung verhindern, […] keines kann verhindern, daß einmal gegebene Bedingungen all ihre natürlichen Resultate mit sich bringen.
(S. 175)
Doch dann zog Bakunin eine andere Folgerung: Es ist augenscheinlich, daß der Klassenunterschied sich nur durch das Erbrecht aufrechterhält. Die natürlichen wie die vorübergehenden Vermögens- oder Glücksunterschiede zwischen den Individuen, die in dem Maße verschwinden werden, wie die Individuen selbst verschwinden werden, verewigen sich durch das Erbrecht. [...] Was wir abschaffen wollen und müssen, ist das vom Rechtssystem begründete Erbrecht, das die Grundlage der juristisch definierten Familie und des Staates bildet. [...] Wir sind der Ansicht, daß Kapital und Boden, mit einem Wort alle Arbeitswerkzeuge und Rohstoffe nicht mehr durch das Erbrecht übertragen werden dürfen und für immer das gemeinsame Eigentum aller Produktiv-Genossenschaften werden.
(S. 175 f.)
Diese Forderung geht nun über das Problem der Verewigung von Unterschieden hinaus, denn dabei würde es ja genügen, für das vererbbare Vermögen einen Freibetrag festzulegen. In einem Artikel in der ›Egalité‹ vom 31. Juli 1869 lieferte Bakunin eine Begründung dafür: [...] die Arbeiter müssen das nicht individuelle, aber kollektive Eigentum des Kapitals erobern: denn wenn sie das vorhandene Kapital unter sich teilen würden, würden sie es zunächst vermindern, würden in ungeheurem Grade seine Produktionskraft verringern und mit Beihilfe des Erbrechts würden sie eine neue Bourgeoisie, eine neue Ausbeutung durch das Kapital wiederherstellen.
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Diese Ideen, das wusste Bakunin, stießen bei vielen Arbeitern auf Ablehnung, die für die Ausbildung ihrer Kinder sparten. Was würde aus den Familienersparnissen, wenn das Erbrecht abgeschafft ist? Bakunin konnte seine Leser beruhigen: Abhilfe bietet nämlich die Gesellschaft. Es ist augenscheinlich, daß nach Abschaffung des Erbrechts die Gesellschaft alle Kosten der physischen, moralischen und geistigen Entwicklung der Kinder beiderlei Geschlechts, die in ihr geboren werden, übernehmen muß. Sie wird deren oberste Betreuerin.
(S. 177)
Die Gesellschaft würde zudem hundert mal so viel Geld für die Erziehung jedes Kindes ausgeben als es die einzelnen Arbeiterfamilien könnten.
Marx war skeptischer, was den Ertrag aus der Abschaffung des Erbrechts betrifft: Wenn die Menschen für ihre Kinder sparen, so sei es ihr Hauptziel, diesen die Subsistenzmittel zu sichern. Wenn die Kinder nach dem Tode der Eltern versorgt wären, würden die Eltern sich nicht darum sorgen, ihnen die Mittel zum Leben zu hinterlassen; aber solange dies nicht der Fall ist, würde die Abschaffung des Erbrechts nur zu Schwierigkeiten führen, sie würde die Menschen reizen und ängstigen und keinen Nutzen bringen.
(S. 171, Sitzungsprotokoll des Generalrats vom 20. Juli 1869) Marx schien also nicht zu glauben, man könne die Kinder versorgen, indem man das Vermögen der Verstorbenen einzieht. Und überhaupt: Eine Erklärung über die Abschaffung des Erbrechts abzugeben, sei verrückt. Wenn es zu einer Revolution käme, könne die Enteignung vollzogen werden; wenn man nicht die Macht dazu habe, würde das Erbrecht auch nicht abgeschafft werden.
(S. 172)
Diese mehr oder weniger aus der Luft gegriffenen Argumente verweisen darauf, dass hier weniger eine Sachfrage debattiert, als vielmehr ein prinzipieller Streit ausgetragen wurde. Dabei ging es um die Rolle des Staates, der bekanntlich einerseits die Menschen unterdrückt und ausbeutet, jedoch sie andererseits auch voreinander beschützt. Gerade dieses zwiespältige Verhältnis des Staates zu seinen Untertanen erklärt, wie auf der gemeinsamen Grundlage des Kollektivismus ein derart scharfer Gegensatz entstehen konnte: Marx bezog sich auf die autoritäre Rolle des Staates, auf seine Macht, die Einzelnen seinen Gesetzen zu unterwerfen und sich ihren Besitz anzueignen. Und so schlug er vor, diese Macht zu stärken, um den wirtschaftlichen Individualismus zurückzudrängen. Bakunin hingegen bezog sich auf den Schutz der individuellen Eigentümer durch den Staat, durch welchen sich das Eigentum und seine Ungleichheit »verewigen«. Der Besitz-Individualismus soll bei ihm überwunden werden, nachdem der Staat zerstört und damit der Schutz des Erbeigentums aufgehoben würde.
Gerade diesen letzten Punkt führte er in seinem Diskussionsbeitrag auf dem Baseler Kongress näher aus: Es war heute zu hören, daß die Umwandlung des Privateigentums in Gemeineigentum auf großen Widerstand bei den Bauern, den kleinen Grundbesitzern stoßen würde. In der Tat – wenn man versuchen würde, [...] diese Millionen Kleinbauern per Dekret zu enteignen, würde man sie zwangsläufig in die Arme der Reaktion treiben, und um sie der Revolution zu unterwerfen, müßte man Gewalt, d.h. die Reaktion, gegen sie einsetzen.
(S. 187) Mehr Erfolg verspricht daher folgende Strategie: Man muß sie also in allen Fällen vor der Hand auf eine gewisse Zeit im Besitze der Ländereien lassen, welche sie gegenwärtig besitzen. Aber wenn ihr das Erbrecht aufrecht erhaltet, würden sie nicht blos Besitzer, sondern Eigenthümer sein und diesen Titel an ihre Kinder wieder vererben, während dem, wenn das Erbrecht und im Allgemeinen jede rechtshistorische und politische Institution vernichtet wird, denselben nichts als der thatsächliche Besitz übrig bleibt, welcher leicht durch die Macht der revolutionären Ereignisse umgeändert und abgelöst werden kann.
(S. 191)11 Bei der Abstimmung fiel der Resolutionsvorschlag des Generalrats durch (19 gegen 37 Stimmen), während Bakunins Vorschlag mit 32 gegen 23 Stimmen bei 75 Delegierten die absolute Mehrheit verfehlte und damit auch nicht angenommen wurde.
Bei der Abstimmung fiel der Resolutionsvorschlag des Generalrats durch (19 gegen 37 Stimmen), während Bakunins Vorschlag mit 32 gegen 23 Stimmen bei 75 Delegierten die absolute Mehrheit verfehlte und damit auch nicht angenommen wurde.
Bakunin, der im Unterschied zu Marx am Baseler Kongress teilnahm, setzte dort gegen den Widerstand des belgischen libertären Kollektivisten Hins eine Stärkung des Generalrats durch; so wurde in die »administrativen Resolutionen des Baseler Kongresses« die Regel aufgenommen: Im Fall von Zwistigkeiten zwischen Gesellschaften oder Zweigen einer nationalen Gruppe oder zwischen Gruppen verschiedener Nationalitäten hat der Generalrat das Recht, die Streitfrage zu entscheiden, vorbehaltlich eines Appells an den nächsten Kongreß, der endgültig entscheidet.
Hinter diesem im Grunde überraschenden Engagement Bakunins für den Generalrat steckte sicherlich mehr als sein Konflikt mit den Uhrmachern der Genfer »Fabrique«. Es handelte sich vielmehr um die gemeinsame Linie aller seiner Freunde aus der »Alliance«: Und bemerkt wohl, all diese Genossen, weit entfernt davon, Sonderaktionen, die der Internationale feindlich oder auch nur fremd wären, organisieren zu wollen, gehorchten strikt den Statuten der Internationale, und im Interesse der Organisation der Arbeiterkräfte empfahlen sie überall, mehr als die Statuten verlangten, die strengste Unterordnung der neuen Sektionen unter die zentrale Leitung des in London befindlichen Generalrats.
12 Das bedeutete nicht, dass die »Alliance« prinzipiell zentralistisch orientiert war – eher wohl unterstützten sie die Zentrale, weil ihnen deren Kurs gefiel. Bakunin hing auch dem Glauben an, Marx werde seine Macht niemals gegen ihn, den Sozialisten, verwenden, sondern allenfalls gegen »bourgeoise« Arbeiter, und war dann überaus verblüfft, als er es doch tat. Aber das ist eine andere, spätere Geschichte, die ihren Platz im sechsten Band der ›Ausgewählten Schriften‹ haben wird.
Bakunin jedenfalls war nicht nur Gegner von Marx. In einem Brief vom Dezember 1868 schrieb er ihm: Du fragst [...], ob ich noch immer Dein Freund bin. – Ja, mehr als je, lieber Marx, weil ich mehr als je zum Verständnis gelangte, wie recht Du hattest, den großen Weg der ökonomischen Revolution zu gehen [...] Mein Vaterland ist jetzt die Internationale, zu deren Hauptgründern Du gehörst. Du siehst also, lieber Freund, daß ich Dein Schüler bin – und ich bin stolz, es zu sein.
(S. 160) Das war gewiss eine übertriebene Formulierung (um der Aufnahme der »Alliance« in die Internationale den Weg zu ebnen), außerdem dürfte Bakunin die Theorie von Marx im Einzelnen kaum gekannt haben: vielmehr sah er in Marx einen Bundesgenossen für seinen eigenen Kampf. Im Oktober 1869, nach dem Baseler Kongress, schrieb er seinem Freund Alexander Herzen: Marx ist zweifelsohne ein nützlicher Mensch in der internationalen Gesellschaft. Er ist hier eine der sichersten, einflußreichsten und klügsten Stützen des Sozialismus, einer der stärksten Dämme gegen das Eindringen irgend welcher Bourgeoisrichtung oder Bestrebungen
. Im selben Brief kündigte er allerdings bereits an, einer prinzipiellen Frage halber, des Staatskommunismus, dessen eifrige Verfechter er [Marx], sowie die von ihm geleitete Partei
« seien, werde es wohl einen Kampf, nicht auf Leben, sondern auf Tod geben.
(S. 81, Brief vom 26. Oktober 1869)
Während sich Bakunin somit noch im gemeinsamen Kampf für den Sozialismus sah und den Konflikt mit ihm noch ein wenig hinausschieben wollte, kämpfte Marx bereits gegen Bakunin. Er hatte, durch Zwischenträger schlecht informiert, den unangenehmen Eindruck gewonnen, Bakunin wolle »Diktator« der Internationale werden; auch war er sich über das Bestehen einer theoretischen Differenz im klaren, wie sie etwa in der Erbrechtsfrage zum Ausdruck kam. In der Einleitung zum fünften Band der ›Ausgewählten Schriften‹ geht Wolfgang Eckhardt im Detail dem komplizierten Vorgang nach, in dem sich aus einem Geflecht von Verdächtigungen, Fehlinformationen, Missdeutungen und Verleumdungen heraus eine recht unwissenschaftlich geführte Kampagne gegen Bakunin entfaltete.
Der von Bakunin vorausgesehene Kampf auf Tod
begann dann im Herbst 1869 und zwar mit einem Westschweizer Scharmützel um die Frage der Beteiligung an Wahlen, das zur Spaltung der Romanischen Föderation führte. Dabei überschnitten sich zwei ideologische Konflikte, nämlich der sozialistische Kampf gegen Arbeiter, die für den Sozialismus nicht zu gewinnen waren, wie die Genfer Uhrmacher, und den Bakunin im Sinne auch von Marx zu führen glaubte, und andererseits der innersozialistische Konflikt um die Rolle des Staates und der politischen Parteien für die geplante sozialistische Umwälzung der Gesellschaft, der Bakunin in Gegensatz zu Marx brachte. So kam es, dass die Genfer Uhrmacher von Bakunin bekämpft und von Marx unterstützt wurden.
Nun ging es nämlich Bakunin um die Aufnahme seiner Allianzsektion in die Romanische Föderation. Das war im Grunde eine Formalität, da die Föderation laut Statut sämtliche Sektionen der Internationale in der französischsprachigen Schweiz aufnehmen wollte. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Aufnahmegesuch als Provokation empfunden, da am Ende des Jahres Wahlen angesetzt waren, bei denen die Uhrmacher mit der radikaldemokratischen Partei kooperierten, so dass ihnen jetzt die »Alliance« mit ihren extremen Positionen sehr ungelegen kam. Der von der »Fabrique« beherrschte Föderalrat verzichtete daher lieber auf eine Entscheidung über das Gesuch.
Man suchte überhaupt größeren Abstand von Bakunin. Die klassenkämpferischen Gemüter hatte sich nach einem gescheiterten Streik der Typographen in Genf erheblich abgekühlt. Die feindliche Gesinnung Bakunins war den Uhrmachern auch nicht verborgen geblieben, und nicht zuletzt hatten die Genfer auch einige inhaltliche Bedenken: Die Allianz predigt den Atheismus und die Abschaffung der Familie, und das wollen wir nicht
, schrieb einer von ihnen, und ein anderer: Die Allianz-Mitglieder glauben weder an Gott noch an die Moral.
(S. 38) (Das klingt bereits, jenseits der altväterlichen Vorstellungen, die hier durchscheinen, wie eine Vorahnung des zivilisatorischen Bruchs, den der Kollektivismus später herbeiführen sollte.)
Jedenfalls ging es jetzt darum, die Aufnahme der Allianzsektion in die Romanische Föderation auf deren allgemeinen Kongress zu erreichen, der für April 1870 angesetzt war. Bakunin hatte inzwischen Verbündete gefunden, nämlich Uhrmacher des schweizer Jura. Er besuchte sie zweimal im Frühjahr 1869 und fand dort für seine Positionen große Zustimmung. Auch die Jurassier hatten zuvor versucht, mit demokratischen Politikern zusammenzuarbeiten, waren jedoch weniger erfolgreich als Coullery und die Genfer und erklärten schließlich auf einer Versammlung im Mai 1869, daß die Internationale sich von einer Beteiligung an der bürgerlichen Politik vollkommen fernhalten soll
. (S. 48) Ohne Zweifel hatten sie noch weitere Gründe, den Parlamentarismus zu meiden, die jedoch nicht ausreichend waren, um sie von dem Versuch einer Beteiligung abzuhalten, und sie wären es umso weniger gewesen, wenn sich Wahlerfolge eingestellt hätten.13
Die IAA-Sektion der Jurassier war Mitglied der Romanischen Föderation, und mit ihrer Hilfe wollte Bakunin nun die Aufnahme seiner Allianzsektion in die Romanische Föderation erreichen. Bakunin maß dem große Bedeutung bei: Dieser Kongreß wird wegweisend für die Internationale in der romanischen Schweiz sein. Es steht eine große Schlacht bevor. Sie wird in der Hauptsache um die Frage der Beteiligung oder Nichtbeteiligung der Arbeiter an der Lokalpolitik gehen. Wir, d.h. alle Jurasektionen, sind für die Nichtbeteiligung. [...] Die Schlacht [...] wird über ihre lokale Bedeutung hinaus von großem allgemeinen Interesse sein. Sie ist das Vorspiel zu jener, die wir auf dem nächsten Allgemeinen Kongreß der Internationale schlagen müssen. Wollen wir die große Politik des Weltsozialismus oder die den verbürgerlichten Arbeitern auf den Leib geschriebene Kleinpolitik der Bourgeois-Radikalen?
(S. 115 f.) Die Gegenposition vertrat der Genfer Henri Perret: Wir müssen stets und mit Nachdruck von unseren Regierungen Rechte und Vergünstigungen einfordern, solange wir sie nicht vollständig abschaffen können
(S. 117) (Man tut ihm bestimmt kein Unrecht, wenn man diesen letzten Punkt nicht ganz glaubwürdig findet.)
Tatsächlich kam es dann gar nicht zu einer Debatte um die große Politik des Weltsozialismus, sondern als der Föderalkongress die Aufnahme der »Alliance« mit knapper Mehrheit beschlossen hatte, spaltete sich der Kongress unter Tumulten, woraufhin die unterlegene Genfer Fraktion eine eigene Föderation gründete. Beide Föderationen wollten nun als »Romanische Föderation« gelten, was den Londoner Generalrat in Verlegenheit brachte, da die Jurassier das formelle Recht auf ihrer Seite haben
, wie Engels bedauernd feststellte, sie aber nicht Recht behalten dürfen
. (S. 136) Sich nämlich von Parteipolitik fernzuhalten, wie die Jurassier und Bakunin das verlangten, war nicht im Sinne von Marx und Engels, so wenig sie sonst mit den Genfern anzufangen wussten. Man fand dann eine Notlösung, indem man die Stimmen der Delegierten nach Mitgliederzahlen gewichtete, um so die Genfer in die rechnerische Mehrheit zu bringen. Diese Zählweise war zwar statutenwidrig, doch immerhin hatte der Generalrat, von Bakunin in Basel entsprechend gestärkt, das Recht, Streitfragen zwischen verschiedenen Sektionen vorläufig zu entscheiden.14
Als die Entwicklung bis zu diesem Punkt gediehen war, wurde sie im Sommer 1870 durch den deutsch-französischen Krieg angehalten. Der vorgesehene Kongress der Internationale fiel aus. Der Konflikt, der letztlich zur Spaltung der Internationale führte, war vorerst vertagt.
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1 Michael Bakunin: Konflikt mit Marx. Teil 1: Texte und Briefe bis 1870. (Ausgewählte Schriften; 5). Berlin 2004. – Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
2 Paul Guichonnet (Hrsg.): Histoire de Genève. 3. Aufl. Toulouse 1986, S. 323.
3 Brief vom 23. Januar 1872. In: Michael Bakunin: Gesammelte Werke. Band 3. Berlin 1924, S. 182 ff.
4 Michael Bakunin: Gesammelte Werke. Band 2. Berlin 1923, S. 194.
5 Ebd., S. 197.
6 Ebd., S. 200.
7 Ebd., S. 201.
8 Ebd., S. 74 f. (Egalité, 31. Juli 1869)
9 Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 16. Berlin 1962, S. 367- 369.
10 Bakunin: Gesammelte Werke. Band 2, a.a.O., S. 74.
11 Einer anderen Überlieferung zufolge hatte Bakunin gesagt: [...] was bliebe dann den Bauern? Nichts als der faktische Besitz, und dieser Besitz, der keine Rechtsgrundlage hat und nicht mehr unter dem mächtigen Schutz des Staates wird sich unter dem Druck der Ereignisse und der revolutionären Kräfte leicht verändern lassen.
(S. 187)
12 Bakunin: Gesammelte Werke. Band 2, a.a.O., S. 178.
13 Mario Vuilleumier: Horlogers die l’anarchisme. Lausanne 1988.
14 Elfriede Wiss-Belleville: Pierre Coullery und die Anfänge der Arbeiterbewegung in Bern und der Westschweiz. Basel 1987, Fußnote 598.