Verlag Edition AV, Lich (Hessen) 2005. 219 S.
Paperback: ISBN 3-936049-52-X / 14 €
Hardcover: ISBN 3-936049-52-1 / 48 €
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Eine Kurzbiographie und vier Spezialstudien über Michail Bakunin werfen in diesem Buch neues Licht auf den Lebensweg des russischen Revolutionärs. Bakunin gehört zu den zentralen Figuren des Anarchismus und kann als dessen Mitbegründer und erster Organisator gelten. Seine Wirksamkeit erstreckt sich von den revolutionären Bewegungen von 1848/49 bis zu den Arbeiterorganisationen der Ersten Internationale.
Detailliert wird u.a. seine Freundschaft mit der französischen Schriftstellerin George Sand sowie seine Zusammenarbeit mit dem deutschen Achtundvierziger Johann Philipp Becker in der Internationale beschrieben – zwei bislang unterschätzte biographische Bezugspunkte, über die sich wesentliche Zusammenhänge seines Konflikts mit Marx neu erschließen.
Schließlich wird dem Schicksal von Bakunins Papieren nachgegangen, die den sächsischen Behörden 1849 bei der Beschlagnahme seines Koffers in die Hände fielen; sie bildeten die Grundlage für die Hochverratsprozesse gegen Bakunin in Sachsen und Österreich, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetischen Militäradministration beschlagnahmt und erst nach 1990 in Moskau wieder zugänglich.
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- Biografie
- Michail Aleksandrovič Bakunin. Biografie, politische Entwicklung, Stellenwert innerhalb des libertären Spektrums
- ›Bakunin. Ein Leben für die Freiheit‹ von Madeleine Grawitz. Eine moderne Biografie?
- Streifzüge
- Die Dresdner Bakuninakten. Geschichte eines Koffers
- Anhang:
- Alte und neue Aktensignaturen
- In Bakunins Koffer gefundene Bücher
- Bakunin, Marx und George Sand. Die Affäre ›Neue Rheinische Zeitung‹ (1848)
- Anhang:
- Bakunin und George Sand: Briefwechsel (Teil 1)
- Die »Pariser Korrespondenz« und ihr Dementi
- Das Echo in der Presse und unter den deutschen Demokraten
- Bakunin und George Sand: Briefwechsel (Teil 2)
- Nachspiel im Jahre 1853
- Bakunin und Johann Philipp Becker. Eine andere Perspektive auf den Beginn der Auseinandersetzungen zwischen Marx und Bakunin in der Ersten Internationale
- Anhang:
- Beckers Übersetzung von Programm und Reglement der Alliance
- Beckers Aufnahmegesuch der Alliance beim Generalrat
- Abkürzungen, abgekürzte Quellennachweise
- Textnachweise
- Register
Nähere Aufschlüsse über die Tätigkeit Bakunins vor und während des Dresdner Maiaufstandes erhoffte sich die mit der juristischen Aufarbeitung der Ereignisse beauftragte Untersuchungskommission am Dresdner Stadtgericht von der Beschlagnahme der Privatpapiere Bakunins. Die durch den Sieg der konterrevolutionären Truppen mittriumphierende reaktionäre Publizistik, die Bakunin zum Diktator und bösen Dämon des Maiaufstands hochstilisierte,12 mag die Untersuchungskommission zusätzlich angespornt haben, nach, wie man hoffte, möglichst drastischen Belegen und belastenden Materialien gegen den hochgefährlichen Russen
zu recherchieren – wenn Journalisten die Nachricht von dem Fund sensationeller Schriftstücke nicht gleich selbst fabrizierten: Ein Schreiber der reaktionären ›Kreuzzeitung‹ zauberte zum Beispiel am 19. Mai fünf völlig phantastische Dokumente aus dem Hut, die der Revolutionair ex officio Bakunin bei sich führte, und die daher auch wahrscheinlich [!] gefunden worden sind
13 – eine für die Zeitumstände durchaus charakteristische Falschmeldung. In Wirklichkeit hatten die Behörden außer den bei Bakunin gefundenen drei Zetteln vorerst nichts gegen ihn in Händen. [...]
Auf die richtige Spur zu Bakunins Koffer brachte die Untersuchungskommission schließlich ausgerechnet ein Freund und Mitangeklagter Bakunins: Carl August Röckel.24 Bei einer Mitte Mai abgehaltenen Durchsuchung von Röckels Wohnung in der Friedrichstraße 29 in Dresden war auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer eine Handgranate25 gefunden worden; über diesen Gegenstand wurde Röckel in einer Gegenüberstellung mit seinem Vermieter am 27. Juni 1849 derart in die Enge getrieben, daß er sich zu der Aussage hinreißen ließ,
daß diese Handgranate, wenn sie ungefüllt sei, in seinem Besitz gewesen, sollte dieselbe jedoch gefüllt sein, so wäre es möglich, daß dieselbe sich unter Bakunins Effekten – Bakunin habe 2 Monate vor dem Aufstande 2 Tage bei ihm gewohnt und einen schwarzen ungewöhnlichen Koffer dort zurückgelassen – befunden habe und dort herausgenommen worden sei.26
Sofort nach Röckels Aussage setzte eine fieberhafte Suche nach dem schwarzen ungewöhnlichen Koffer
ein, der am Folgetag (28. Juni) endlich nach vielfachen vergeblichen Bemühungen
gefunden wurde. Wie amtlich festgestellt wurde, war der Koffer aus Röckels Wohnung zunächst in das Logis des polnischen Grafen Mirzaiwky (dem Schwiegervater von Röckels Bruder Eduard) in der Ostraallee geschafft worden und von da aus in die Wohnung des Instrumentenmachers Stange, Töpfergasse 3, 2 Treppen, wo er vom Gerichtsassessor Hammer entdeckt wurde.27
Die Nachricht von dem sensationellen Fund durcheilte wenige Tage später die Zeitungen:
Von dem Auffinden eines hier verborgen gewesenen Koffers mit Papieren Bakunins, hieß es zum Beispiel in einer Korrespondenz vom 6. Juli 1849,verspricht man sich in der hiesigen politischen Untersuchung mancherlei Aufschlüsse. Dieselben sind meist in polnischer oder russischer Sprache geschrieben. Oestreichische, preußische und russische Bevollmächtigte nehmen Einsicht davon, namentlich ist der preußische Criminalrath Schlettke [Schlötke] aus Berlin zu diesem Zwecke hier anwesend.28
Zum Verdruß der sächsischen Untersuchungskommission stellte sich jedoch bald heraus, daß ihnen nur einer von mehreren Koffern Bakunins ins Netz gegangen war: Aufgrund eines Dresdner Amtshilfeersuchens wurde am 3. Juli Franziska Hänsel, ein zusammen mit Röckels Gattin Caroline nach Weimar gereistes Dienstmädchen der Familie Röckel, vom Criminalgericht Weimar vernommen. Sie gab an: Den Russen Michael Bakunin kenne ich nicht
; drei bis vier Wochen vor dem Aufstande, erinnerte sie sich jedoch, seien zwei Herren zu Röckel zu Besuch gekommen, von denen der eine
eine Nacht, der andere, zwei Nächte bei meiner Herrschaft geblieben sind. Den Namen dieser Herren kenne ich nicht. Derjenige, welcher zwei Nächte dablieb, könnte dreißig und einige Jahre bis vierzig Jahre alt sein [Bakunin war knapp 35 Jahre alt] und war von untersetzter Statur; sein Gesicht war ohne Bart, sein Haupthaar schwarz oder braun, seine Gesichtsfarbe gesund und sein Gesicht sehr hübsch. Er trug einen dunkelfarbigen Überrock und einen bunten Shawl. [...] als er zu uns kam, [hatte er] zwei Koffer bei sich. Den einen Koffer hat der Herr, als er von uns fortging mit sich genommen, er stand in dem Zimmer der Frau Musikdirektor Röckel und in demselbe befanden sich Kleidungsstücke: ich bemerkte dies als ich einst das Zimmer betrat, der Koffer geöffnet war und jener Herr sich ein Paar Strümpfe herausnahm.29
Kurz darauf stellten die sächsischen Gerichtsbehörden fest, daß Bakunin den aus Röckels Wohnung mitgenommenen Koffer zu dem polnischen Emigranten Juljusz Andrzejkowicz gebracht hatte, bei dem er Ende April 1849 wohnte. Der mit der Untersuchung beauftragte Gerichtsassessor Hammer vermerkte hierzu am 9. Juli:
In der gegen den Russen Michael Bakunin hier anhängigen Untersuchung hat sich durch fortgesetzte Recherchen des Untersuchungsgerichts herausgestellt, daß Bakunin, außer dem bereits aufgefundenen großen Koffer, in Besitz eines kleineren Koffers gewesen [ist], welchen er in der von ihm getheilten Wohnung des Juljusz Andrzejkowicz aus Wilna – Zwingerstraße No. 4 – am 4. Mai dieses Jahres zurückgelassen und nach seiner Angabe dem [?] Andrzejkowicz mit der Aufforderung, solchen sofort zu dem Marienstraße No. 9. wohnhaften Bojar Basil von Ghika aus Kodeesti in der Moldau schaffen zu lassen, übergeben hat. Die weiter angestellten Erörterungen begründen die Vermuthung, daß der erst am 10n Mai dieses Jahres mit Gouvernialpaß von hier und zunächst nach Hannover gereiste Juljusz Andrzejkowicz den Koffer Bakunins nicht abgegeben, sondern mit fortgenommen habe.30
Bei der möglichen Wichtigkeit des Inhalts dieses Koffers für die Untersuchung
empfahl der Beamte über das Außenministerium Kontakt mit der Russischen Gesandtschaft in Dresden aufzunehmen, um des russischen Untertans Andrzejkowicz habhaft werden und über ihn in den Besitz des zweiten Koffers Bakunins kommen zu können.31 Tatsächlich gelangten die Nachrichten über Andrzejkowicz bald nach Petersburg, woraufhin der Chef der russischen Geheimpolizei in einem Bericht an den Zaren vorschlug, eine Verfügung ins Ausland abgehen zu lassen, nach der Andrzejkowicz festzunehmen und mit allen seinen Papieren den zaristischen Behörden auszuliefern sei; Zar Nikolaus I. versah diesen Bericht mit dem Kommentar: Vernünftig
.32 Trotz der Bemühungen des Zaren und mehrerer Polizeibehörden ist der zweite Koffer Bakunins bis heute nicht wieder aufgetaucht. Wie bereits das Dienstmädchen Franziska Hänsel andeutete, hätte sich aber dessen Inhalt ohnehin als irrelvant erwiesen: In österreichischer Kerkerhaft sprach Bakunin am 18. April 1851 selbst den bei Andrzejkowicz verbliebenen Koffer an und äußerte die Bitte, ihn herbeischaffen zu lassen, da er den Großteil seiner Wäsche und Kleidungsstücke – aber keine Papiere – enthalte.33
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12 In einer zeitgenössischen Schmähschrift hieß es zum Beispiel: Das eigentliche Haupt der Verschwörung aber war der Russe Bakunin, der bald nach Ernennung der provisorischen Regierung mit dem schrecklichsten Terrorismus selbst die provisorische Regierung knechtete [...]. Bakunin glich, wie er mit großen Schritten immer im Zimmer [der provisorischen Regierung] auf- und niedereilte, einem nach Rache schnaubenden Dämon – er, der Verfehmte, Verfolgte, auf dessen Kopf die russische Regierung eine Prämie von 1000 Ducaten gesetzt hat, hatte die Fäden der deutschen Revolutionen, die zum 20. Mai ausbrechen sollten, in seinen Händen. Dieser Teufel kannte keine Schonung
(zitiert nach Schriften, II, S. 173). – Noch heute spinnen Halbinformierte in ähnlicher Weise den Mythos über Bakunin weiter, siehe zum Beispiel den bizarren Vortrag von Helmut Dahmer auf einem Symposion der Friedrich-Ebert-Stiftung am 27. Oktober 1995 in Dresden (gedruckt in: Michael Bakunin, Gottfried Semper, Richard Wagner und der Dresdner Mai-Aufstand 1849. Bonn 1995, S. 25-37).
13 Folgende fünf Dokumente
wurden hierbei genannt: 1) das Original des Schlacht- und Brandplans für Berlin zum 12. November 1848 [...]; 2) das Original eines Plans zum allgemeinen blutigen Aufstand für die polnische Sache [...]; 3) die sämmtlichen Papiere über den Aufstand in Erfurt; 4) einen Originalbrief des Geh. Ober-Tribunals-Raths Waldeck an das Mitglied der Dresdener provisorischen Regierung, Todt [...]; 5) wichtige Papiere über die polnischen Verbindungen.
(Neue Preußische Zeitung, Berlin, Nr. 114, 19. Mai 1849, dritte Meldung in der Rubrik ›Berliner Zuschauer‹ auf der Titelseite). Diese Nachricht stützte sich offenbar auf fingierte Informationen von Joseph Ohm (siehe Der Waldeck’sche Prozeß, S. 50, 259 und 262).
24 Carl August Röckel (1814-1876), Musiker aus Graz, 1843-1848 Musikdirektor der Königlichen Kapelle in Dresden, ab August 1848 Herausgeber der radikaldemokratischen ›Volksblätter‹. 1849 gehörte Röckel zu den engsten politischen Freunden Bakunins in Dresden. Bei Ausbruch des Dresdner Maiaufstands befand sich Röckel mit einem Auftrag Bakunins in Prag, kehrte aber sofort nach Dresden zurück und wurde Kommandant eines Barrikadendistrikts. Bei dem Versuch, einen bewaffneten Zuzug nach Dresden zu führen, wurde er in der Nacht vom 7. zum 8. Mai 1849 gefangengenommen.
25 Zur Handgranatenaffäre, die noch weitere Kreise zog, vgl. Bernd Kramer: ›Laßt uns die Schwerter ziehen, damit die Kette bricht ...‹. Michael Bakunin, Richard Wagner und andere während der Dresdner Mai-Revolution 1849. Karin Kramer Verlag, Berlin 1999, S. 63-67.
26 Acta wider den Musikdirector Carl August Röckel aus Dresden wegen Hoch- und Staatsverrats, Vol. I. Ergangen vor der Criminal-Abtheilung des Stadtgerichts zu Dresden, 1849, Bl. 26v.-27. SHStA Dresden, Signatur: 10684 Stadtgericht Dresden, Nr. 852.
27 Acta, Ia, Bl. 49.
28 Trier’sche Zeitung, Nr. 164, 12. Juli 1849, S. 3. Zur Zusammenarbeit der sächsischen und preußischen Polizeibehörden siehe unten. – Auch in russischen Regierungskreisen machte die Nachricht von der Beschlagnahme von Bakunins Papieren sogleich die Runde; am 8. Juli 1849 meldete die Gattin des russischen Staatskanzlers von Nesselrode ihrem Mann: Les journaux prétendent qu’on a mis la main sur un grand nombre de papiers appartenant à Bakounine; cela peut mener à des découvertes utiles
(Lettres et papiers du chancelier Comte de Nesselrode 1760-1856. Extraits de ses archives. Hrsg. von Anatole de Nesselrode. Band 9: 1847-1850. A. Lahure, Imprimeur-Editeur, Paris o.J., S. 264). Der russische Gesandte in Dresden Andreas von Schröder, der seinen Vorgesetzten den Fund offiziell mitzuteilen hatte, ließ es sich nicht nehmen, seinem Bericht vom 20. September 1849 einige entrüstete Kommentare hinzuzufügen: All diese Papiere zusammengenommen tragen den Stempel gewisser revolutionärer Fieberphantasien, die dem Autor [Bakunin] seine mehr oder weniger wirren, aber stets verbrecherischen Gedanken eingaben. In den deutschen und französischen Papieren sind die Früchte der Philosophie Hegels zu erkennen, an denen sich Bakunin während seines Aufenthaltes in Berlin labte. Sein Aufenthalt in Dresden ermöglichte ihm Kontakt zu Ruge aufzunehmen; dieser machte sich die atheistische Vorbildung seines jungen Freundes und Anhängers, mit dem er sich duzte, zunutze. Ein französischer Brief ist in dieser Hinsicht sehr bezeichnend. Insgesamt gesehen beweist Bakunin ein weiteres Mal, wohin Verirrung und Pflichtvergessenheit die Menschen führen können, wenn das Fehlen religiöser Prinzipien die Oberhand gewinnen.
(Materialy, I, S. 6)
29 Acta wider den Musikdirector Carl August Röckel, a.a.O. (Anm. 26), Bl. 42-43v.
30 Den Aufruhr in Dresden betr., 1850, Bl. 199. SHStA Dresden, Signatur: Justiz-Ministerium, Nr. 545/9.
31 Ebd., Bl. 199v.-200.
32 Aleksandr Sergeevič Nifontov: Rossija v 1848 godu. Gosudarstvennoe Učebno-Pedagogičeskoe Izdatel’stvo Ministerstva Prosveščenija RSFSR, Moskau 1949, S. 224; dt. A. S. Nifontow: Rußland im Jahre 1848. Rütten & Loening, Berlin 1954, S. 252.
33 Materialy, II, S. 461-462.