Herausgegeben von Wolfgang Eckhardt
3. Auflage
Karin Kramer Verlag, Berlin 2011
555 S.
›Staatlichkeit und Anarchie‹ ist nicht nur das letzte Werk, das Bakunin geschrieben hat, sondern vor allem das erste und einzige Buch, das er zu Lebzeiten auch veröffentlicht hat. In der Auseinandersetzung mit dem Staatsprinzip in Geschichte und Gegenwart Europas sowie in scharfer Abgrenzung zu Marx umreißt Bakunin in ›Staatlichkeit und Anarchie‹ seine Vorstellung der Anarchie, die er als Ende der Herren und jeglicher Herrschaft
definiert.
Neben einem umfangreichen Anmerkungsapparat enthält die vorliegende Ausgabe das Vorwort zur deutschen Erstausgabe von Hansjörg Viesel und eine detaillierte Einleitung zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Buches, das in Rußland großen Einfluß auf die revolutionäre Bewegung hatte. Bakunins Theorie
, erinnerte sich ein Zeitgenosse, bezauberte uns durch ihre Klarheit und Geradlinigkeit, dadurch daß sie ohne irgendwelche Vorbehalte radikal an die Lösung aller Probleme ging.
Dagegen klagte der zaristische Justizminister 1875: Es haben die Schriften Bakunins einen nachweisbaren und höchst bedenklichen Einfluss auf die Jugend. Von Niemandem widerlegt, nahm man dieselben eben als Antwort auf die Frage: ›Was ist zu tun?‹
Das sind die Überzeugungen der sozialen Revolutionäre, und deshalb nennt man uns Anarchisten. Wir protestieren nicht gegen diese Bezeichnung, denn wir sind in der Tat Feinde jeglicher Macht, weil wir wissen, daß Macht ebenso zersetzend auf den wirkt, der sie hat, wie auf den, der ihr gehorchen muß.
(Bakunin)
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Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie
Anhang: Hansjörg Viesel: Vorwort zur deutschen Erstausgabe Berlin 1972
Inhaltszusammenfassung von ›Staatlichkeit und Anarchie‹
Anmerkungen
Personen- und Periodika-Register
Einer der wenigen nicht-russischen Leser des Buches in den 1870er Jahren war Karl Marx, der es konzentriert durchgearbeitet und einen Konspekt mit Auszügen und Kommentaren davon anfertigt hat. Dieser Konspekt nimmt 24 Seiten in einem 16 x 19 cm großen Manuskriptheft von Marx ein, das den Titel ›Russica II‹ trägt und Auszüge sowie Zusammenfassungen einer Reihe von russischen Autoren wie Lavrov und Nikolaj Ziber enthält; es wurde von Marx und später erneut von Engels mit 1875
datiert, möglicherweise hat Marx jedoch bereits ab April 1874 an dem Konspekt gearbeitet.218 Marx’ Inhaltsangabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ besteht teils aus russischsprachigen Auszügen teils aus Übersetzungen, Zusammenfassungen und Kommentaren in deutscher Sprache. Der Konspekt wurde erstmals 1926 von D. Rjazanov in russischer Übersetzung in der Zeitschrift Letopisi Marksizma publiziert, worin sich auch die Reproduktion eines Manuskriptblatts befindet;219 aus diesem ist ersichtlich, daß Marx seine russischen Exzerpte in Druckbuchstaben fertigte, nicht in Schreibschrift, zweifellos da ihm das Russische, das er seit Ende 1869 lernte,220 noch keineswegs flüssig von der Hand ging.
Zunächst ist dieser Konspekt schon deswegen ein Kuriosum, da Marx in den Jahren zuvor alles daran gesetzt hatte, die persönliche und politische Integrität Bakunins nach Möglichkeit zu untergraben. Bakunins Ideen bezeichnete er dabei nicht als andere politische Auffassung, als anderes sozialistisches Konzept, sondern kurzerhand als Unsinn, gedankenlose Schwätzereien, ein Rosenkranz von hohlen Einfällen
221 usw. So wirft die Tatsache, daß er dann 1874/75 die Anstrengung für lohnend gehalten haben muß, ein russisches Buch dieses gedankenlosen Schwätzers mit 308 und 24 Seiten mühevoll durchzuarbeiten, zu exzerpieren und zu kommentieren, ein bezeichnendes Licht auf die Kampagne, die Marx noch kurz zuvor gegen Bakunin geführt hat.222
In dem Konspekt klagt Marx Bakunin zunächst gelegentlich an, die ökonomischen Bedingungen außer acht zu lassen (Der Wille, nicht die ökonomischen Bedingungen, ist die Grundlage seiner sozialen Revolution
),223 während Passagen, in denen Bakunin auf wirtschaftliche Zusammenhänge eingeht, weder zitiert noch kommentiert werden.224 Andere in diesem Zusammenhang stehende Ausführungen Bakunins, wie seine prophetischen Äußerungen zur kommenden Bedeutung der Luftfahrt, werden ironisch abgefertigt. Bakunins diesbezügliche Äußerung lautete:
Es kann sein, daß sich die Luftschiffahrt eines Tages als noch bequemer in jeder Hinsicht erweisen und besonders wichtig sein wird, so daß gerade sie endgültig gleiche Entwicklungs- und Lebensbedingungen in allen Ländern schafft.
225
Diesen Satz hat Marx so übersetzt und kommentiert:
› [...] Es mag sein, die Luftschiffahrt wird sich zeigen noch tauglicher in allen Beziehungen und wird besonders wichtig sein dadurch, daß sie schließlich nivelliert die Bedingungen der Entwicklung und des Lebens für alle Länder.‹
226
Dies Hauptsache bei Bak.[unin] – Nivellieren, z.B. ganz Europa auf die slowakischen Mausefallhändler.
Eine tendenziöse Richtung ergibt sich gelegentlich auch durch Auslassungen, so etwa bei folgendem Satz Bakunins (in der Marx vorliegenden Originalausgabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ auf S. 110), der sich auf die russische Geschichte des 17. Jahrhunderts bezieht:
Die russische Knute siegte mit Hilfe des Volkes, gleichzeitig natürlich zum großen Nachteil des Volkes, das zum Zeichen echter staatlicher Dankbarkeit den Zarenknechten, den adligen Gutsbesitzern, in erbliche Sklaverei übergeben wurde.
227
Dies faßte Marx mit den Worten zusammen: ›Die russische Knute siegte dank dem Volk.‹ Dieses Geständnis S. 110.
228
Einzelne Äußerungen Bakunins hat Marx jedoch auch zum Anlaß für eine inhaltliche Selbstverständigung genommen, die tatsächlich den auseinanderstrebenden Ideengehalt von Marxismus und Anarchismus offenlegt, so zum Beispiel in der Frage der Bedeutung der ökonomischen Bedingungen für den revolutionären Prozeß:
Eine radikale soziale Revolution ist an gewisse historische Bedingungen der ökonomischen Entwicklung geknüpft; letztre sind ihre Voraussetzung. Sie ist also nur möglich, wo mit der kapitalistischen Produktion das industrielle Proletariat wenigstens eine bedeutende Stellung in der Volksmasse einnimmt. [...] Da nun alle bisherigen ökonomischen Formen, entwickelt oder unentwickelt, Knechtschaft des Arbeiters (sei es in der Form des Lohnarbeiters, Bauern etc.) einschließen, so glaubt er [Bakunin], daß in allen gleichmäßig radikale Revolution möglich.
229
Textpassagen, in denen er selbst namentlich genannt wird, übernahm Marx während fünf Sechsteln von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ ohne jeden Kommentar in seinen Konspekt – erst ab S. 278 der Originalausgabe gibt Marx hierzu einen ersten eigenen Kommentar. Bakunin hatte an dieser Stelle die Staatsfrage in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Marx gestellt, indem er bezüglich einer Formulierung aus dem ›Kommunistischen Manifest‹ (der erste Schritt in der Arbeiterrevolution [ist] die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse
)230 die Frage stellte: Es fragt sich, wenn das Proletariat die herrschende Klasse sein wird, über wen es dann herrschen soll?
231 Vielleicht provoziert durch diese direkte Fragestellung, nahm Marx erstmals direkt Stellung:
Das meint, solange die andren Klassen, speziell die kapitalistische noch existiert, solange das Proletariat mit ihr kämpft (denn mit seiner Regierungsmacht sind seine Feinde und ist die alte Organisation der Gesellschaft noch nicht verschwunden), muß es gewaltsame Mittel anwenden, daher Regierungsmittel; ist es selbst noch Klasse, und sind die ökonomischen Bedingungen, worauf der Klassenkampf beruht und die Existenz der Klassen, noch nicht verschwunden und müssen gewaltsam aus dem Weg geräumt oder umgewandelt werden, ihr Umwandlungsprozeß gewaltsam beschleunigt werden.
232
Etwas weiter im Text kommt Bakunin noch einmal auf diese Frage zurück:
Solange es einen Staat gibt, muß es auch Herrschaft geben und folglich auch Sklaverei; ein Staat ohne offene oder verborgene Sklaverei ist undenkbar – das ist der Grund, weshalb wir Feinde des Staates sind. Was soll das heißen, das zur herrschenden Klasse erhobene Proletariat?
233
Hierzu schrieb Marx:
D.h., daß das Proletariat, statt im einzelnen gegen die ökonomisch privilegierten Klassen zu kämpfen, Stärke und Organisation genug gewonnen hat, um allgemeine Zwangsmittel im Kampf gegen sie anzuwenden; es kann aber nur ökonomische Mittel anwenden, die seinen eignen Charakter als salariat [Lohnarbeiter], daher als Klasse aufheben; mit seinem völligen Sieg ist daher auch seine Herrschaft zu Ende, weil sein Klassencharakter [verschwunden].
234
Und Bakunins Feststellung: Dann wird es keine Regierungen, keinen Staat geben, denn wenn es einen Staat gibt, dann gibt es auch Regierte, gibt es Sklaven
235 versuchte Marx so zu kontern: D.h. bloß: wenn die Klassenherrschaft verschwunden, und es keinen Staat im jetzigen politischen Sinne geben [wird].
236
Bakunin hat diese Antwort etwas weiter im Text selbst vorweggenommen, indem er schrieb:
Sie [die Marxisten] sagen, daß [...] sich der Staat, der jeden politischen, d.h. staatlichen Charakter verloren haben wird, von allein in eine völlig freie Organisation ökonomischer Interessen und Gemeinden verwandeln wird.
237
Hier ist ein offener Widerspruch. Wenn ihr Staat ein wahrer Volksstaat sein soll, weshalb sollte man ihn dann abschaffen, und wenn seine Abschaffung notwendig ist für die wahre Befreiung des Volkes, wie können sie dann wagen, ihn einen Volksstaat zu nennen?
Marx:
Abgesehn von dem Herumreiten auf dem Liebknechtschen Volksstaat,238 der Blödsinn ist, gegen das kommunistische Manifest etc. gewandt, heißt es nur: da das Proletariat während der Periode des Kampfs zum Umsturz der alten Gesellschaft noch auf der Basis der alten Gesellschaft agiert und daher auch noch in politischen Formen sich bewegt, die ihr mehr oder minder angehörten, hat es seine schließliche Konstitution noch nicht erreicht während dieser Kampfperiode und wendet Mittel zur Befreiung an, die nach der Befreiung wegfallen; daher schließt Herr B.[akunin], daß es lieber gar nichts tun soll ... den Tag der allgemeinen Liquidation – des jüngsten Gerichts – abwarten soll.
239
Mit dieser hilflosen Falschaussage – das Abwarten
propagiert zu haben, ist vielleicht der bizarrste Vorwurf, der Bakunin je gemacht wurde – enden die ausführlicheren Kommentare von Marx. Selbst folgende klassische Aussage Bakunins zur ›Diktatur des Proletariats‹ und deren marxistischen Verfechtern hat Marx unkommentiert gelassen:
Sie versichern, daß allein die Diktatur, natürlich die ihre, die Freiheit des Volks schaffen kann; wir dagegen behaupten, daß eine Diktatur kein anderes Ziel haben kann, als nur das eine, sich zu verewigen, und daß sie in dem Volk, das sie erträgt, nur Sklaverei zeugen und nähren kann [...].
240
Bakunins Buch enthält wahrscheinlich die beste Kritik des Marxismus, die es bis dahin gegeben hat. Seinen Warnungen vor einer neuen herrschenden Klasse von sozialistischen
Funktionären sind gelegentlich sogar prophetische Züge eigen, die an das sowjetische Herrschaftssystem gemahnen.241 Die Herausgeber der ›Marx-Engels-Werke‹ waren dennoch der Meinung, Marx widerlege in seinem Konspekt glänzend
die anarchistische Kritik an der Diktatur des Proletariats242 – eine recht eigenwillige Einschätzung angesichts des Textes des Konspekts. In Wirklichkeit zeigt dieses Dokument, wie Rudi Dutschke bemerkt hat, recht deutlich den tiefen und dauernden Einfluß Bakunins auf Marx
,243 wofür auch folgende Geschehnisse jener Zeit sprechen: Als Marx und Engels um den 10. März 1875 von dem kontroversen Programmentwurf für den Gothaer Vereinigungsparteitag von Lassalleanern
und Eisenachern
erfuhren,244 der für den Mai 1875 angesetzt war, schrieb Engels an August Bebel, daß Marx und ich uns nie zu der auf dieser Grundlage errichteten neuen Partei bekennen
könnten.
Bedenken Sie
erläuterte Engels, daß man uns im Auslande für alle und jede Äußerungen und Handlungen der deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei verantwortlich macht. So Bakunin in seiner Schrift ›Politik und Anarchie‹, wo wir einstehen müssen für jedes unüberlegte Wort, das Liebknecht seit Stiftung des ›Demokratischen Wochenblattes‹ gesagt und geschrieben.
245
2 1/2 Wochen vor dem Vereinigungsparteitag sandte Marx schließlich seine Kritik des ›Gothaer Programms‹ an Wilhelm Bracke, damit
, wie Marx in einem Begleitbrief schrieb, später meinerseits zu thuende Schritte von den Parteifreunden, für welche diese Mittheilung bestimmt ist, nicht missdeutet würden. Nach abgehaltnem Coalitions-Congress [in Gotha] werden Engels und ich nämlich eine kurze Erklärung veröffentlichen, des Inhalts, dass wir besagtem Principienprogramm durchaus fern stehn und nichts damit zu thun haben. Es ist diess unerlässlich, da man im Ausland die von Parteifeinden sorgsamst genährte Ansicht – die durchaus irrige Ansicht hegt, dass wir die Bewegung der s.[o] g.[enannten] Eisenacher Partei insgeheim von hier aus lenken. Noch in einer jüngst erschienenen russischen Schrift macht Bakunin mich z.B. nicht nur für alle Programme etc. jener Partei verantwortlich, sondern sogar für jeden Schritt den Liebknecht vom Tag seiner Kooperation mit der Volkspartei an gethan hat.
246
Beide Äußerungen können sich nur auf ›Staatlichkeit und Anarchie‹ beziehen.
* * *
218 vgl. L. A. Veličanskaja: K istorii sozdanija kritiko-polemičeskogo konspekta K. Marksa knigi M. Bakunina ›Gosudarstvennost’ i anarchija‹. In: Novye materialy o žizni i dejatel’nosti K. Marksa i F. Engel’sa i ob izdanii ich proizvedenij, Moskau, Band 2, 1986, S. 106-108 und 126-127.
219 D. Rjazanov [d.i. David Borisovič Goldendach] (Hrsg.): Karl Marks, ›Bakunin: Gosudarstvennost’ i Anarchija‹. In: Letopisi Marksizma, Moskau, Leningrad, Band 2, 1926, S. 62.
220 Vgl. Marx an Ludwig Kugelmann, 29. November 1869, in MEW, Band 32, S. 637. – Marx an Engels, 22. Januar 1870, ebd., S. 428.
221 MEW, Band 16, S. 409.
222 vgl. Obras, V, Nachtrag zum Vorwort, S. 331.
223 MEW, Band 18, S. 633-634.
224 zum Beispiel Bakunins Äußerungen über den Zollverein, siehe vorliegenden Band, S. 285. – Ähnlich tendenziös ist Marx bereits in seinen Konspekten der 1840er Jahre vorgegangen, über die Peter Ludz bemerkt hat, daß Marx durch seine Exzerpiermethode soviel in die ›Exzerpte‹ erst hineingelegt hat, wie er später, indem er auf diesen Exzerpten polemisch sein System aufbaute, wieder herauslas.
(Peter Ludz: Zur Situation der Marxforschung in Westeuropa. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln-Opladen, 10. Jg., 1958, S. 457). Vgl. ferner Maximilien Rubel: Les cahiers de lecture de Karl Marx. In: International Review of Social History, Assen, Band 2, 1957, S. 398.
225 siehe vorliegenden Band, S. 220.
226 MEW, Band 18, S. 619.
227 siehe vorliegenden Band, S. 194.
228 MEW, Band 18, S. 614.
229 ebd., S. 633-634.
230 ebd., Band 4, S. 481.
231 siehe vorliegenden Band, S. 337.
232 MEW, Band 18, S. 630.
233 siehe vorliegenden Band, S. 337.
234 MEW, Band 18, S. 634.
235 siehe vorliegenden Band, S. 337.
236 MEW, Band 18, S. 634.
237 siehe vorliegenden Band, S. 339.
238 Der Volksstaat, sozialdemokratische Zeitung, erschien von 1869-1876 in Leipzig unter der Redaktion Wilhelm Liebknechts.
239 MEW, Band 18, S. 636.
240 siehe vorliegenden Band, S. 339.
241 siehe zum Beispiel in vorliegendem Band, S. 341-342.
242 MEW, Band 18, Vorwort, S. XII. – In diesem Sinne hatte schon Rjazanov argumentiert: Bakunin habe als Anarchist lediglich schlecht verstanden, worin die Bedingungen dieser Diktatur bestehen.
(Rjazanov, a.a.O. (Anm. 219), S. 61)
243 Rudi Dutschke: Zur Literatur des revolutionären Sozialismus von K. Marx bis in die Gegenwart. sds-korrespondenz, Sondernummer, Frankfurt/M., (Oktober) 1966, S. 15.
244 vgl. MEGA, I 25, S. 515-516. – Zur Organisation der Lassalleaner
und Eisenacher
« vgl. in vorliegendem Band, Anm. +257 und +272.
245 Engels an August Bebel, 18.-28. März 1875, in MEW, Band 34, S. 129. – Über Liebknecht vgl. in vorliegendem Band, Anm. +32.
246 Marx an Wilhelm Bracke, 5. Mai 1875, in MEGA, I 25, S. 5.
* * *
Unter Volksregierung verstehen sie [die Marxisten] die Regierung des Volkes durch eine kleine Anzahl von Repräsentanten, die durch das Volk gewählt werden. Das allgemeine und gleiche Recht auf Wahl der sogenannten Volksvertreter und der Regierung des Staates für das ganze Volk – dieses letzte Wort der Marxisten wie auch der demokratischen Schule ist eine Lüge, hinter der sich der Despotismus einer herrschenden Minderheit verbirgt, und zwar eine um so gefährlichere, als sie sich als Ausdruck des sogenannten Volkswillens gibt.
So kommt man also, von welchem Standpunkt auch immer man dieses Problem betrachten mag, stets zu demselben traurigen Resultat: zur Beherrschung der großen Mehrheit der Volksmasse durch eine privilegierte Minderheit. Diese Minderheit aber, so sagen die Marxisten, wird aus Arbeitern bestehen. Mit Verlaub, aus ehemaligen Arbeitern, die aber, kaum sind sie zu Volksvertretern geworden oder an die Regierung gelangt, aufhören, Arbeiter zu sein und vielmehr auf die ganze Welt der einfachen Arbeiter von der Höhe des Staats herabzusehen beginnen; und so werden sie bereits nicht mehr das Volk, sondern sich selbst repräsentieren und ihren Anspruch darauf, das Volk zu regieren. Wer das bezweifelt, der kennt die menschliche Natur nicht.
Diese Auserwählten aber sind dann glühend überzeugte und dazu noch gelehrte Sozialisten. – Die Worte gelehrter Sozialist
, wissenschaftlicher Sozialismus
, denen man in den Werken und Reden der Anhänger von Lassalle und Marx ständig begegnet, beweisen allein schon, daß der sogenannte Volksstaat nichts anderes sein wird als die äußerst despotische Regierung der Volksmassen durch eine neue und zahlenmäßig sehr kleine Aristokratie wirklicher oder angeblicher Gelehrter. Das Volk ist nicht gelehrt, d.h. es wird vollkommen von der Sorge der Regierung befreit werden, wird gänzlich in die Herde der Regierten eingeschlossen. Eine schöne Befreiung!
Diesen Widerspruch spüren die Marxisten; sie erkennen, daß eine Regierung durch Gelehrte, die das Drückendste, Hassenswerteste und Verachtungswürdigste auf der Welt ist, trotz aller demokratischen Formen eine wahre Diktatur sein wird, und trösten sich bei dem Gedanken, daß diese Diktatur nur befristet und kurz sein wird. Sie sagen, daß ihre einzige Sorge, ihr einziges Ziel sein wird, das Volk zu bilden und sowohl wirtschaftlich wie auch politisch auf ein solches Niveau zu heben, daß jede Regierung bald unnötig wird und sich der Staat, der jeden politischen, d.h. staatlichen Charakter verloren haben wird, von allein in eine völlig freie Organisation ökonomischer Interessen und Gemeinden verwandeln wird.
Hier ist ein offener Widerspruch. Wenn ihr Staat ein wahrer Volksstaat sein soll, weshalb sollte man ihn dann abschaffen, und wenn seine Abschaffung notwendig ist für die wahre Befreiung des Volkes, wie können sie dann wagen, ihn einen Volksstaat zu nennen? Mit unserer Polemik gegen sie haben wir sie zu dem Eingeständnis gebracht, daß Freiheit oder Anarchie, d.h. die freie Organisation der Arbeitermassen von unten nach oben, das letzte Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung ist und daß jeder Staat, einschließlich ihres Volksstaates, ein Joch ist, was bedeutet, daß er Despotismus auf der einen und Sklaverei auf der anderen Seite erzeugt.
Sie behaupten, daß ein solches staatliches Joch, eine Diktatur, ein unvermeidliches und vorübergehendes Mittel zur vollständigen Befreiung des Volkes sei: Anarchie oder Freiheit ist das Ziel, Staat oder Diktatur – das Mittel. So ist es also zur Befreiung der Volksmassen erst nötig, sie zu knechten.
Bei diesem Widerspruch hat unsere Polemik bisher haltgemacht. Sie versichern, daß allein die Diktatur, natürlich die ihre, die Freiheit des Volkes schaffen kann; wir dagegen behaupten, daß eine Diktatur kein anderes Ziel haben kann als nur das eine, sich zu verewigen, und daß sie in dem Volk, das sie erträgt, nur Sklaverei zeugen und nähren kann; Freiheit kann nur durch Freiheit geschaffen werden [...].
* * *
Erstellt für die zweite Auflage (2007) von Reinhold Straub. Die nachfolgend genannten Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe
Die Bourgeoisie fürchtet die Tätigkeit der Internationale; es bildet sich eine Zusammenarbeit der Regierungen gegen sie heraus (Beispiele: Frankreich, Spanien, Italien).
Da Staaten ihrem Wesen nach einander feindlich und letztlich unversöhnlich gegenüberstehen, konnten und können sie für eine Gemeinsamkeit keine andere Basis finden als die einmütige Unterjochung der Volksmassen, obwohl diese doch allgemein Grundlage und Zweck ihrer Existenz sind.
(104)
Das neue deutsche Kaiserreich ist das Zentrum aller reaktionären Bewegungen in Europa. (Rußland, das manchmal dafür gehalten wird, ist hierfür zu schwach.) Die Reaktion verwirklicht den modernen Staat, der in der Ausbeutung der Arbeit des Volkes durch Kapitalbildung und Bankspekulation besteht. Diese bedarf der Zentralisierung, und ist somit unvereinbar mit einer föderativen Organisation von unten nach oben, sehr gut jedoch vereinbar mit der repräsentativen (Pseudo-)Demokratie. Um das Volk, für das die Ausbeutung bitter ist, unterdrücken zu können, muß der moderne Staat ein Militärstaat sein, und als solcher ist er auch nach außen hin aggressiv – er muß nach der Weltherrschaft streben, die allerdings unmöglich ist.
Der moderne Staat ist seinem Wesen und seiner Zielsetzung nach notwendig ein Militärstaat, und der Militärstaat wird mit derselben Notwendigkeit zu einem aggressiven Staat; wenn er nicht selbst angreift, so wird er angegriffen, und das aus dem einfachen Grunde, weil überall dort, wo Gewalt ist, sie zwangsläufig auch sichtbar und wirksam werden muß.
(117)
Welche Macht sich der Übermacht Deutschlands entgegenstellen könnte, wird im folgenden betrachtet.
Frankreich kann Deutschland nicht Paroli bieten, da dort der Patriotismus verschwunden ist, zuerst im Bürgertum, dann in der Landbevölkerung. Es gibt ihn nur noch bei den Arbeitern, dort allerdings mit dem Internationalismus verbunden. Die Kommune wandte sich gegen den Staatspatriotismus. Es zeigte sich dabei, daß zwischen dem Proletariat und den privilegierten Klassen kein Kompromiß mehr möglich ist. Dieser Antagonismus ist der zweite Grund, weshalb eine internationale Machtstellung Frankreichs unmöglich geworden ist.
Englands Macht beruhte auf seinem Reichtum, der sich verringert hat; daher ist seine Macht geschwunden.
Spanien ist durch den Volksaufstand gegen Napoleon wiederhergestellt worden. (Die nationale Erhebung in Deutschland 1812 / 1813 ist mit diesem Volksaufstand übrigens nicht zu vergleichen.) Seitdem blieb der Staat instabil, Volksaufstände ereignen sich häufig.
Eine Volkserhebung, die naturgemäß spontan, chaotisch und unerbittlich ist, erfordert immer große Aufwendungen und Opfer an eigenem und fremdem Gut. Volksmassen sind immer zu solchen Opfern bereit; sie bilden deshalb eine rohe, ungebändigte Kraft, vollbringen wahre Heldentaten und verwirklichen scheinbar unerreichbare Ziele, weil sie nur wenig oder überhaupt kein Eigentum besitzen, also nicht verdorben sind.
(137)
In Italien gibt es seit langem die Autonomie der Gemeinden, zugleich eine Einheit der Gesellschaft auch ohne staatliche Einheit. Elend, revolutionäres Bewußtsein und die Übereinstimmung ihres Ideals mit dem der Internationale lassen eine baldige soziale Revolution, jedoch keine staatliche Eroberungspolitik erwarten.
Aber auch Armut und Verzweiflung sind zu wenig, um die Soziale Revolution hervorzurufen. Sie können private oder höchstens lokale Revolten auslösen, aber sie reichen nicht aus zur Erhebung ganzer Volksmassen. Dazu bedarf es außerdem noch eines Volksideals, das sich immer historisch aus der Tiefe des Volksinstinktes herausbildet, eines Instinktes, der sich durch eine Kette von Ereignissen sowie schweren und bitteren Erfahrungen formt, erweitert und erhellt; notwendig ist ferner eine allgemeine Vorstellung vom eigenen Recht und ein tiefer, leidenschaftlicher, man kann sagen, religiöser Glaube an dieses Recht.
(142)
Österreich-Ungarn ist dem Untergang nahe. Das Hauptproblem dieses Staates besteht in den ethnischen Gegensätzen, erstens dem zwischen den Deutschen und den Ungarn, der zur Teilung des Reiches geführt hat, zweitens dem zwischen den staatstragenden Völkern der Deutschen bzw. der Ungarn und den von ihnen beherrschten Slawen. Die Slawen hassen die Deutschen – als Reaktion auf deren Pangermanismus ist unter ihnen der Panslawismus weit verbreitet, der allerdings von Kräften getragen wird, die in Sinne eines deutschen Staatsbewußtseins erzogen wurden. Denn die Slawen haben niemals Staaten gegründet. Es sind Bauernvölker, die sich immer nur zur Abwehr fremder Mächte vereinigt haben und gegen sie revoltierten. Sie sehen sich jetzt vor die Wahl gestellt, ihre Befreiung durch Bildung eines Staates oder durch die Soziale Revolution zu suchen.
Kleine slawische Staaten, auch wenn sie föderiert sind, wären zu schwach, um sich Deutschland entgegenzustellen: dazu müßte es einen zentralistischen Großstaat geben, in dem niemand frei sein könnte außer einer kleinen Schicht von Privilegierten. Aber auch ein slawischer Großstaat wäre schwächer als Deutschland, da bei den Slawen die Leidenschaft für den Staat und die Fähigkeit zur Organisation geringer ist.
Trotz der ungeheuren Entwicklung der modernen Staaten, ja als Folge dieser endgültigen Entwicklung, die übrigens vollkommen logisch und mit unbedingter Notwendigkeit gerade das Prinzip der Staatlichkeit ad absurdum geführt hat, wurde klar, daß die Tage des Staates und der Staatlichkeit gezählt sind, und daß sich die Zeiten für eine völlige Befreiung der Arbeitermassen nähern: die Zeiten ihrer freien gesellschaftlichen Organisation von unten nach oben, ohne jede Einmischung einer Regierung; einer Organisation, die auf freien wirtschaftlichen Bündnissen unter den Völkern, ungeachtet aller alten Staatsgrenzen und aller nationalen Unterschiede auf der einen Grundlage beruht, und zwar der Grundlage produktiver, ganz vermenschlichter und bei aller Vielfalt völlig solidarischer Arbeit.
(160-161)
Die Nationalität ist eine Tatsache, die ein Recht auf Anerkennung hat, aber kein besonderes Prinzip; sie belebt sich, je mehr sie von allgemeinmenschlicher Substanz durchdrungen wird. Die Renaissance und die Französische Revolution sind Beispiele dafür, daß jene Völker tonangebend sind, die für ein allgemein-menschliches Interesse eintreten. Heute besteht das weltweite Interesse in der Befreiung der Arbeiter von Ausbeutung und staatlichem Joch, daher werden die Slawen ihren Platz in der Geschichte nur durch die Soziale Revolution finden können. Die ist aber nur als internationale Revolution möglich, daher müssen die slawischen Arbeiter der Internationale beitreten und dürfen nicht den Weg der Partei gehen.
Im serbischen Staat herrschen die Beamten. Es wäre eine Illusion zu glauben, deren Herrschaft werde weniger drückend, wenn Serbien größer würde. Ebenso ist es eine Illusion, der serbische Staat sei zur Befreiung der Serben im Ausland notwendig. Man sieht das am Beispiel Italiens, das nicht vom Königreich Piemont geeinigt wurde, sondern von der Revolution, und ebenso daran, daß das Versprechen der serbischen Regierung, Krieg gegen die Türkei zu führen, Jahr für Jahr gebrochen wird.
Die tschechischen Arbeiter stehen vor dem Dilemma: Anschluß an die deutsche Sozialdemokratie oder an die bürgerlich-tschechische Nationalbewegung? Der Ausweg aus dem Dilemma besteht in der Bildung und Föderation von Fabrik- und Landarbeiterassoziationen innerhalb der Internationale. Die Politik die tschechischen Staatsmänner ist hingegen eine lächerliche Komödie, die niemandem nützt.
Das russische Reich ist für eine kleine Minderheit von Vorteil, wird jedoch vom Volk, auf dem es lastet, gehaßt. Da Mächte nicht friedlich nebeneinander bestehen können, muß es zum Konflikt mit Deutschland kommen. Die Deutschen hassen Rußland, ursprünglich aus liberalen Gründen, später aus Angst vor dem Panslawismus. Im Augenblick halten Deutschland und Rußland jedoch Frieden, da sie, nachdem sie Polen unter sich aufgeteilt haben, nunmehr als weiteres gemeinsames Ziel die Aufteilung Österreichs anstreben. (Auch Österreich nahm sich einen Teil Polens, allerdings wäre ein selbständiges Polen zum Schutz vor Deutschland und Rußland günstiger gewesen.) Zweitens braucht Deutschland das Bündnis mit Rußland, um sich im Westen zu erweitern.
Rußland als Militärstaat muß unbedingt Eroberungen machen. Zwei Wege stehen zur Auswahl:
1. Weg – Aggression gegen Deutschland; wenig erfolgversprechend (189) Es wäre ein Bündnis mit Frankreich erforderlich: Dagegen spricht Frankreichs Schwäche. (190)
Panslawismus bedeutet Revolution, insbesondere in Polen; Polens Freiheit aber bedeutete den Untergang des russischen Reiches. (192) Bestenfalls würde ein Teil der österreichischen Slawen den Krieg mit einem Aufstand unterstützen. (196)
Probleme des Angriffskrieges gegen Deutschland: (198)
Fazit: Im Falle eines russischen Angriffs würde Deutschland nach Rußland eindringen und das Baltikum und Polen erobern. (211)
2. Weg – Aggression nach Süden und Osten: diesen Weg wird Rußland gehen; dafür sprechen folgende Gründe:
Fazit: Deutschland wird das Abkommen mit Rußland nicht einhalten, daher ist auch dieser Weg aussichtslos. (237)
Deutschland ist gegenwärtig der einzige souveräne Staat. Das liegt an seinen militärischen Erfolgen, der Qualität seiner Armee, vor allem aber an seinem Instinkt für das Gemeinwesen, seinem Sinn für Gehorsam und Herrschaft. Gehorsam und Bürokratie entwickelten sich in Deutschland zwischen der Reformation und dem Jahr 1815. Das Wunder der deutschen Literatur seit 1750 führte zwar zu einer abstrakten Humanität, blieb jedoch ohne praktische Folgen. Sehr bald wandten sich die deutschen Intellektuellen von der Französischen Revolution ab und entwickelten in der Auseinandersetzung mit der Besatzung unter Napoleon einen staatsorientierten Nationalismus.
Nach 1815 wandte sich Österreich der Reaktion zu, während von Preußen liberale Reformen erwartet wurden. Das sterbende Österreich mußte jede Entwicklung aufhalten, während das gestärkte, aber ungefestigte Preußen Veränderungen suchen mußte: entweder indem es sich an die Spitze der liberalen Bewegung in Deutschland stellte, oder eine reaktionäre Politik kombiniert mit militärischer Aufrüstung suchte oder drittens die Despotie mit Formen der Volksvertretung verband, wie es später Napoleon III. unternahm. Dieser letztgenannte Weg war noch nicht möglich, da man das Volk hinter der Bourgeoisie vermutete, während heute die Bourgeoisie den Staat braucht, um sich vor dem Volk zu schützen. Österreich mußte, um die Hegemonie in Deutschland nicht zu verlieren, Preußen ins reaktionäre Lager ziehen, was gelang, da König und Hof diesem Weg ohnehin zuneigten. Der vereinigten preußisch-österreichischen Reaktion stellte sich das liberale Bürgertum entgegen, scheiterte jedoch kläglich, wie im folgenden betrachtet wird.
Gegen die Reaktion in Gestalt der Heiligen Allianz erhob sich überall in Europa eine liberale Revolte, in Deutschland allerdings nur sehr schwach (Wartburgfest 1817, zwei Mordanschläge 1819). Vorherrschend war das Streben nach einem Einheitsstaat, das von den Regierungen aber erfolgreich bekämpft wurde.
Die Julirevolution in Paris 1830 belebte den Liberalismus in Deutschland neu. Die Regierungen hatten – unnötige – Angst vor ihm, da sie den Haß der Bürger auf den Adel und sein Streben nach nationaler Einheit fürchteten. Die polnische Revolution hätte allerdings im Falle des Erfolges Preußen zur Einigung Deutschlands unter liberalen Vorzeichen gezwungen. Nach dem Hambacher Fest 1832 und einigen Aufständen beendeten die Regierungen die politische Bewegung durch massenhafte Inhaftierung von Liberalen.
Die Bewegung übertrug sich auf das Gebiet der Literatur, wo jetzt Frankreich in Mode kam. (272)
Im Geistesleben erlangte der Hegelianismus die Vorherrschaft. Dabei kam die Ansicht auf, eine Revolution in Deutschland würde ungleich radikaler als jene in Frankreich sein, aufgrund der besonderen Radikalität des Hegelschen Denkens. Das erwies sich 1848 als falsch, und es war falsch aus folgendem Grund:
[man ging nicht] vom Leben zum Denken, sondern vom Denken zum Leben. Wer aber vom abstrakten Denken ausgeht, der wird niemals das Leben einholen, denn von der Metaphysik zum Leben führt kein Weg. Sie sind durch einen Abgrund getrennt. Um diesen Abgrund zu überwinden, muß man einen Salto mortale vollführen, oder das, was Hegel selbst einen qualitativen Sprung aus der Welt der Logik in die Welt der Natur, der lebendigen Wirklichkeit nennt, und das ist bisher noch niemandem gelungen und wird wohl auch niemals gelingen. Wer mit Abstraktionen operiert, der wird in ihnen zugrunde gehen. Der lebendige, konkrete und vernünftige Weg, das ist in der Wissenschaft der Weg vom realen Faktum zum Gedanken, der dieses Faktum umfaßt, ausdrückt und damit auch erklärt; in der Welt der Praxis geht dieser Weg vom Leben der Gesellschaft aus, mit dem Ziel, eben dieses Leben möglichst vernünftig zu regeln, seinen Anweisungen, Bedingungen und Bedürfnissen und seinen mehr oder weniger leidenschaftlichen Forderungen entsprechend. Das ist der breite Weg des Volkes, der Weg zur wirklichen und vollkommenen Befreiung, jedem erreichbar und deshalb wahrhaft volkstümlich, der Weg einer anarchistischen sozialen Revolution, die ohne Anstoß von außen aus dem Volk selbst entsteht und alles zerstört, was das gewaltige Überströmen des Volkslebens hindern könnte, um dann aus der Tiefe des Seins eines Volkes neue Formen einer freien Gesellschaft zu schaffen.
(277-278)
Die Metaphysiker hingegen zwängen das Leben in das Ideal einer Ordnung. Gelehrte sind Tyrannen, es darf keine Privilegien für sie geben. Die Soziale Revolution wird die Wissenschaft nicht zum Allgemeinbesitz machen. Das gesellschaftliche Leben bringt die abstrakten Reflexionen hervor, ist aber niemals deren Resultat.
Entsprechend dieser unserer Überzeugung haben wir weder die Absicht noch die geringste Lust, unserem oder einem fremden Volk ein beliebiges Ideal einer Gesellschaftsstruktur anzuhängen, das wir uns angelesen oder selbst ausgedacht haben, sondern wir suchen dieses Ideal im Volk selbst, in der Überzeugung, daß die Volksmassen in ihren mehr oder weniger historisch entwickelten Instinkten, in ihren täglichen Bedürfnissen und in ihren bewußten und unbewußten Bestrebungen alle Elemente ihrer zukünftigen normalen Organisation tragen; und da jegliche staatliche Macht, jede Regierung ihrem Wesen und ihrer Stellung nach außerhalb des Volkes, über ihm steht und unbedingt danach streben muß, es einer Ordnung und Zielen zu unterwerfen, die ihm fremd sind, so erklären wir uns zu Feinden jeglicher Macht einer Regierung oder eines Staates, zu Feinden staatlicher Ordnung überhaupt, und glauben, daß das Volk nur dann glücklich und frei sein kann, wenn es sich selbst sein Leben schafft in einer Organisation von unten nach oben, mit selbständigen und völlig freien Vereinigungen ohne jede offizielle Überwachung, nicht aber ohne vielfältige und gleich unabhängige Einflüsse von Personen und Parteien. Das sind die Überzeugungen der sozialen Revolutionäre, und deshalb nennt man uns Anarchisten. Wir protestieren nicht gegen diese Bezeichnung, denn wir sind in der Tat Feinde jeglicher Macht, weil wir wissen, daß Macht ebenso zersetzend auf den wirkt, der sie hat, wie auf den, der ihr gehorchen muß.
(281)
Im Gegensatz dazu sind die Idealisten ebenso prostaatlich wie die doktrinären Revolutionäre (z.B. Marx).
In diese 2. Phase fällt die Gründung des Zollvereins, mit dem Preußen seine Machtausdehnung vorantrieb.
Diese Phase war geprägt von der widersprüchlichen Persönlichkeit König Friedrich Wilhelms IV. Die Orientierung an der französischen Literatur setzte sich fort, und es fanden sich die Anfänge des Sozialismus in Deutschland: Marx und der Neue Katholizismus.
An der Revolution 1848 beteiligten sich in Deutschland: Gelehrte ohne Tatkraft; aufrichtige Revolutionäre, zumeist Kleinbürger, ohne Programm; ein städtisches Proletariat, das von der bourgeoisen Demokratie betrogen wurde; eine aufständische Bauernschaft, die von allen, Bourgeois und Sozialisten, bekämpft wurde. Gescheitert sind sie nicht militärisch, sondern an ihrer Unfähigkeit. Sie ließen allerlei Parlamente wählen, dachten sich Verfassungen aus, glaubten den Versprechen der Fürsten, ließen weiter Steuern an sie entrichten.
Die Philosophen haben nicht verstanden, daß es gegen politische Macht keine anderen Garantien geben kann als die völlige Vernichtung, daß in der Politik, wo Mächte und Fakten gegeneinander kämpfen wie in einer Arena, Worte, Versprechungen und Eide nichts bedeuten, und das schon allein deshalb, weil jede politische Macht, solange sie wirklich Macht bleibt, sogar ohne und gegen den Willen der Obrigkeit und der Herrscher, die sie lenken, von Natur aus und bei Gefahr der Selbstvernichtung unbeirrbar und um jeden Preis die Verwirklichung ihrer Ziele anstreben muß.
(300)
Die Nationalversammlung entschied sich gegen die Republik zugunsten der Monarchie und gegen ein zentralistisches zugunsten eines föderativen Reichs – um den Fürsten den Thron nicht nehmen zu müssen. Während die Herrscher einen militärischen Gegenschlag vorbereiteten, debattierten die Parlamentarier weiter über die Verfassungsfragen, obwohl sie die Gefahr durchaus sahen. Entscheidende Bedeutung für die Niederlage der Revolution in ganz Europa hatte General Cavaignacs rücksichtslose Niederschlagung des Pariser Arbeiteraufstandes im Juni 1848.
Um erfolgreich gegen militärische Gewalt kämpfen zu können, die künftig vor nichts mehr Achtung hat und zudem noch mit den schrecklichsten Vernichtungswaffen ausgerüstet und bereit ist, bei der Zerstörung nicht nur von Häusern und Straßen, sondern von ganzen Städten mit all ihren Bewohnern von ihnen Gebrauch zu machen, um also gegen eine so wilde Bestie ankämpfen zu können, muß man eine andere, nicht weniger wilde, dafür aber gerechtere Bestie haben: die organisierte Revolte des ganzen Volkes, die soziale Revolution, welche genauso erbarmungslos ist wie die militärische Reaktion und vor nichts zurückschreckt.
(313)
Die deutschen Revolutionäre blieben untätig, und so scheiterte die Revolution kläglich. Der Hauptgrund dafür war das Streben nach einem pangermanischen Staat, das sich mit einer Revolution, die die Macht abwerfen will, nicht vereinbaren ließ. Schließlich scheiterte auch der Versuch des preußischen Königs, Deutschland militärisch unter seine Herrschaft zu bringen, am Widerstand Österreichs und Rußlands. Unfähigkeit war die Ursache der Ergebnislosigkeit der Revolution, die Deutschen wandten im Bewußtsein davon den großen abstrakten Ideen den Rücken und begannen auf die Eroberungspolitik Preußens zu hoffen.
Die Freiheit im Inneren war vollständig geschwunden, die deutschen Staaten waren von auswärtigen Mächten abhängig.
1858 wurde der spätere Kaiser Wilhelm (I.) Regent in Preußen. Er näherte sich zunächst den Liberalen an, die daraufhin an seine Seite traten. Für Wilhelm stand das Recht auf Eroberung über dem Recht auf erblich legitimierte Herrschaft; somit war das Problem der Einigung Deutschlands lösbar, sofern es nur Vorwände für Kriege geben würde. Die schuf Bismarck, der 1862 Minister wurde.
Bismarck, der ein skrupelloser Machtpolitiker ist, wenn auch von der aristokratisch-klerikalen Umgebung des Königs sehr gebremst, begann seine Laufbahn 1847 als Vertreter der extremen Adelspartei, bekämpfte das Frankfurter Parlament, wurde 1851 Gesandter Preußens beim Deutschen Bund, wo er sich zum Feind Österreichs wandelte. 1862, bei seinem Amtsantritt als Minister, erklärte er, die Staatsprobleme seien nur durch Gewalt zu lösen, Gewalt gehe vor Recht.
[...] mit diesen Worten [hatte Bismarck] das ganze Wesen der politischen Geschichte der Völker ausgesprochen, das ganze Geheimnis staatsmännischer Weisheit. Dauerhafte Herrschaft und Triumph der Gewalt – das ist das wahre Sein; alles, was in der Sprache der Politik Recht genannt wird, ist nur die Heiligung eines durch Gewalt geschaffenen Faktums. Es ist klar, daß die Volksmassen die Freiheit, nach der sie dürsten, nicht von einem theoretischen Sieg abstrakten Rechts erwarten können; sie müssen die Freiheit mit Gewalt erobern, wozu sie ihre elementaren Kräfte außerhalb des Staates und gegen ihn organisieren müssen.
(329)
Die militärischen Erfolge von 1864 (Krieg gegen Dänemark) und 1866 (gegen Österreich) machten Bismarck populär; die Kritik der Liberalen verstummte, abgesehen von der süddeutschen Volkspartei, die ab 1866 noch eine Zeitlang in ihren Widersprüchen lebte.
Die wenigen organisierten Arbeiter suchten meist genossenschaftliche Selbsthilfe in Arbeiterbildungsvereinen (System Schulze-Delitzsch), was Lassalle zu Recht als Unterstützung der bourgeoisen Welt kritisierte. Lassalles Programm hingegen empfahl ganz im Sinne von Marx’ Kommunistischem Manifest die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.
Wird jedoch das Proletariat zur herrschenden Klasse – über wen wird es dann herrschen? Über die Bauern? Die Slawen? Nein, es geht den Marxisten darum, vom Volk gewählte Repräsentanten an die Macht zu bringen – aber dann herrscht wieder eine Minderheit über die Mehrheit.
Diese Minderheit aber, so sagen die Marxisten, wird aus Arbeitern bestehen. Mit Verlaub, aus ehemaligen Arbeitern, die aber, kaum sind sie zu Volksvertretern geworden oder an die Regierung gelangt, aufhören, Arbeiter zu sein und vielmehr auf die ganze Welt der einfachen Arbeiter von der Höhe des Staats herabzusehen beginnen; und so werden sie bereits nicht mehr das Volk, sondern sich selbst repräsentieren und ihren Anspruch darauf, das Volk zu regieren.
(338)
Die Regierung soll angeblich nur vorübergehend wirken und die Arbeiter auf die Anarchie als letztem Ziel vorbereiten.
Sie versichern, daß allein die Diktatur, natürlich die ihre, die Freiheit des Volkes schaffen kann; wir dagegen behaupten, daß eine Diktatur kein anderes Ziel haben kann als nur das eine, sich zu verewigen, und daß sie in dem Volk, das sie erträgt, nur Sklaverei zeugen und nähren kann; Freiheit kann nur durch Freiheit geschaffen werden, d.h. durch einen allgemeinen Volksaufstand und durch die freie Organisation der Arbeitermassen von unten nach oben.
(339)
Die Politik der Staatskommunisten verstrickt ihre Anhänger notwendigerweise in Machenschaften mit der Regierung. Davon zeugen die Beziehungen Lassalles zu Bismarck. Im Unterschied zu Marx sah Lassalle, daß ein Bündnis mit den bourgeoisen Radikalen aussichtslos ist; die radikale Bourgeoisie braucht das Volk, um die Macht im Staat zu erlangen, würde sie aber niemals zu Gunsten des Volkes benutzen, da sie eine von ihm getrennte Klasse darstellt. Da andererseits in Deutschland keine Revolution zu erwarten ist, blieb Lassalle nur das Bündnis mit dem bestehenden Staat, d.h. mit Bismarck übrig, der ebenso ein Gegner der Bourgeoisie und Anhänger eines starken Staates ist wie Lassalle und Marx. Lassalles Tod 1864 ließ diesen Plan dann nicht zur Entfaltung kommen.
Anhänger von Marx gründeten 1868 die sozialdemokratische Partei, die ein Bündnis mit der liberalen Volkspartei einging. Auf dem Kongreß der Liga für Frieden und Freiheit (Bern 1868) verneinten ihre Delegierten die Frage der (Bakuninschen) Allianz, ob sie für die sozial-ökonomische Gleichheit eintreten wollten.
Auf dem Basler Kongreß der Internationale erlitten sie mit ihrem Versuch, ihr Programm durchzusetzen, eine Niederlage, mit der die Spaltung der Internationale einsetzte. Der deutsch-französische Krieg 1870 ließ die Streitereien allerdings verstummen.
Bis auf wenige Ausnahmen stimmten alle Deutschen, auch die Arbeiter, in den pangermanischen Triumph ein. Die alte Bürgertugend verfällt unter dem Einfluß der Börsenspekulation; das Reich strebt nach weiterer territorialer Expansion; es gelingt ihm, seine Bestrebungen unter einer liberalen Maske zu verhüllen (etwa durch den Konflikt mit der katholischen Kirche, das allgemeine Wahlrecht, die Beschäftigung mit der sozialen Frage). Das deutsche Reich und die soziale Revolution stehen nun einander als Todfeinde gegenüber.
Selbst die rationalste und tiefsinnigste Wissenschaft kann nicht die Formen des zukünftigen gesellschaftlichen Lebens erahnen. Sie kann nur die negativen Bedingungen definieren, die sich logisch aus der strengen Kritik an der bestehenden Gesellschaft ergeben. So ist man in der SozialÖkonomie mit dieser Kritik zur Ablehnung des erblichen Privateigentums gekommen und damit zu einer abstrakten und gleichsam negativen Konzeption vom Kollektiveigentum als notwendiger Voraussetzung der zukünftigen Gesellschaftsordnung. Dieser Weg führte schließlich zur Ablehnung selbst der Idee des Staates und der Herrschaft, d.h. zur Ablehnung einer Regierung der Gesellschaft von oben nach unten [...], und folglich zur entgegengesetzten und damit negativen Position – zur Anarchie, d.h. zur selbständigen und freiheitlichen Organisation aller Einheiten oder Elemente, die die Gemeinden bilden, und zu deren freier Föderation von unten nach oben – nicht auf Befehl irgendeiner Obrigkeit, und sei es einer gewählten, und nicht nach den Richtlinien irgendeiner gelehrten Theorie, sondern infolge einer völlig natürlichen Entwicklung von Bedürfnissen aller Art, die sich aus dem Leben selbst ergeben. Deshalb ist kein Gelehrter in der Lage, das Volk zu lehren oder auch nur für sich selbst zu bestimmen, wie das Volk am Tag nach der sozialen Revolution leben wird und leben soll.
(363-364)
In Rußland ist eine Strömung zur Ausbildung von Volkserziehern entstanden. Was kann man dem Volk lehren? Sicherlich nicht Theorie, sondern Praxis. Bildung von Kooperativen etwa? Das bringt nicht viel, vor allem nicht auf dem Land.
Hingegen sind die Voraussetzungen für eine soziale Revolution vorhanden. Das Volk ist nicht nur arm und geknechtet, sondern verfügt auch über ein gemeinsames Ideal. (370)
Wenn es nämlich dieses Ideal noch nicht gäbe [...], so müßte man jegliche Hoffnung auf eine russische Revolution aufgeben; denn so ein Ideal bildet sich aus den Tiefen des Volkslebens heraus, ergibt sich unmittelbar aus den Prüfungen, die das Volk im Laufe der Geschichte erduldet hat; ergibt sich aus seinen Bestrebungen, Leiden, Protesten und Kämpfen und ist dabei gleichsam der bildliche und allgemeinverständliche, immer einfache Ausdruck seiner wahren Bedürfnisse und Hoffnungen. Wenn natürlich ein Volk dieses Ideal nicht selbst und aus sich selbst erarbeitet, so wird niemand in der Lage sein, es ihm zu geben. Ganz allgemein ist festzuhalten, daß man niemandem, weder einem Einzelnen, noch einer Gesellschaft, noch einem Volke etwas geben kann, das nicht schon in ihm angelegt ist, nicht nur als Keim, sondern bereits bis zu einem gewissen Grad entwickelt.
(370-371)
Lange bittere Erfahrung hat den Volksmassen Europas zu Bewußtsein gebracht, daß sie sich nur aus eigener Kraft durch eine soziale Revolution befreien können.
(373) Das Ideal im russischen Volk:
Das Ideal wird überschattet durch:
Der christliche Glauben ist in Rußland allerdings nicht so bedeutend wie in Westeuropa. Die Sozialrevolutionäre betonen ihren Atheismus nicht, im Unterschied zu den Freidenkern, die Gott angreifen, weil sie vor der sozialen Revolution zurückschrecken. Man muß die Wahrheit sagen und sich zum Atheismus bekennen, aber die Hauptfrage ist ökonomisch-politisch.
Das größte Übel ist der Patriarchalismus in den Familien und Dorfgemeinden. Sodann die Isoliertheit der Gemeinden, wodurch Aufstände lokal beschränkt bleiben und leicht besiegt werden können. Die jungen Sozialrevolutionäre müssen ins Volk gehen, aber nicht, um nur sein Leben zu teilen, oder Kolonien zu gründen, oder vorbildhaft den Patriarchalismus abzulegen: sondern nur Rebellion ist der Weg. Der Kampf gegen den Patriarchalismus ist schon überall im Gange und der Zarenglauben ist im Schwinden begriffen: jetzt muß vor allem noch die Isoliertheit der Gemeinden überwunden werden, damit eine allgemeine Volkserhebung möglich wird.