Herausgegeben von Wolfgang Eckhardt
6. aktualisierte, durchgesehene und erweiterte Auflage
Karin Kramer Verlag, Berlin 2011
162 S.
Bakunins grundlegender Text mit einer Einleitung von Paul Avrich (Erstübersetzung aus dem Amerikanischen). Im Anhang Dokumente zur Editionsgeschichte, unter anderem von Elisée Reclus und Max Nettlau.
›Gott und der Staat‹ erweist sich als kraftvoll und energiegeladen und mit einer ganzen Reihe von fesselnden Aphorismen gespickt, die von Bakunins bemerkenswerter intuitiver Veranlagung zeugen. Entsprechend wurde ›Gott und der Staat‹ das am meisten gelesene und am häufigsten zitierte aller Werke Bakunins. Aber der vielleicht wichtigste Grund für seine Popularität besteht darin, daß das Buch in lebendiger Sprache und bei verhältnismäßig kurzem Umfang die grundlegenden Bestandteile der anarchistischen Weltanschauung Bakunins darlegt.
(Paul Avrich)
Diese Schrift hat auch dadurch wesentliche Bedeutung gewonnen, daß sie die am meisten verbreitete und übersetzte Schrift Bakunins ist ... Die Übersetzungen erschienen meist in den ersten Jahren der beginnenden anarchistischen Literaturen in verschiedenen Sprachen, so daß gleich die ersten Propagandisten diese Ideen aufnahmen. Sie ist, obgleich sie sich äußerlich ›nur‹ auf die Religion bezieht, mehr als eine andere für den Glauben an Autorität irgendwelcher Art vernichtend. Wer ihre ... Lektüre auf sich wirken läßt, wird keiner speziellen Belehrung bedürfen, um einen autoritären Sozialismus, ein autoritäres politisches System unerträglich zu finden. Dies war stets die Wirkung dieser Schrift und erklärt ihre dauernde rege Verbreitung. Sie wird dadurch zu einem repräsentativen Dokument der anarchistischen Literatur und erscheint hier als solches.
(Max Nettlau, 1919)
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Einleitung von Paul Avrich (Erstübersetzung aus dem Amerikanischen von Jörg Asseyer)
Anhang:
- Elisée Reclus: Vorwort zur französischen Erstausgabe Genf 1882 (erste vollständige Übersetzung)
- Zum Austritt aus der Landeskirche. Vorwort zur Ausgabe des ›Sozialist‹, Berlin 1893
- Max Nettlau: Einleitung zur Ausgabe Leipzig 1919
Anmerkungen
Personen- und Periodika-Register
Nach dem Zusammenbruch der parteikommunistischen Herrschaftssysteme in Osteuropa scheinen heute sämtliche Ideen und Vorstellungen, die einen emanzipatorischen Gesellschaftsentwurf beinhalten, gleichermaßen hinfällig. Diese angebliche Krise des Sozialismus
ist aber in Wirklichkeit nur eine Krise des Staatskommunismus, der bekannten Mischung aus Militarismus, Bürokratie, Polizeistaat und Parteiherrschaft, die als sogenannter real existierender Sozialismus
vielen Menschen in Osteuropa in unguter Erinnerung geblieben ist. Es bleibt aber festzuhalten, daß die Menschen gegen dieses Herrschaftssystem aufgestanden sind und nicht gegen Freiheit und soziale Gerechtigkeit; die Geschichte ist über diese Regierungsform hinweggegangen, nicht aber über die Frage nach einer Gemeinschaftsform, in der für alle Mitglieder der Gesellschaft ein menschenwürdiges Zusammenleben ohne Zwang möglich ist. Daher werden heute jene bisher angefeindeten und ignorierten Theoretikerinnen und Theoretiker für größere Kreise wieder aktuell, die bereits vor mehr als 100 Jahren prophetisch vor einer autoritären Verfälschung des Sozialismus als Staatsideologie gewarnt haben und stattdessen die Begriffe Dezentralisierung, Selbstverwaltung und Föderalismus in die sozialistische Debatte geworfen haben: die subversiven Theoretikerinnen und Theoretiker der Anarchie.
Die Anarchie – in der Regel als Synonym für Chaos und Unordnung mißbraucht – ist in Wirklichkeit eine Sozialphilosophie, die die Vorstellung einer herrschaftslosen Gesellschaftsordnung zu ergründen versucht. Spuren dieser Lebens- und Weltanschauung lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen, die klassische Formulierung und begriffliche Zusammenfassung der anarchistischen Ideen wurde aber erst im 19. Jahrhundert vorgenommen. Michael Bakunin (1814-1876) gehörte zu jenen, die an der Herausbildung dieser Theorien maßgeblich beteiligt waren. Durch seine Ideen und seine mitreißende Tätigkeit ist er als Klassiker des herrschaftslosen Sozialismus in die Geschichte eingegangen. Und trotz der zeitlichen Differenz erweisen sich viele seiner Ideen bei näherer Untersuchung von ungebrochener Aktualität. Als Diskussionsgrundlage erscheint daher jetzt eine Neuedition seiner Texte unter dem Titel ›Ausgewählte Schriften‹, deren erster Band hiermit vorliegt.
In deutscher Sprache sind bereits viele Werke Bakunins erschienen, allerdings mitunter in ziemlich nachlässigen Ausgaben und auf schlechter Textgrundlage.1 Die einzige mehrbändige deutschsprachige Veröffentlichung erschien in den 20er Jahren unter dem Titel ›Gesammelte Werke‹2 – sie wurde jedoch schon nach drei Bänden abgebrochen. Mit den ›Ausgewählten Schriften‹ wird nun versucht, ein neues Fundament für die Beschäftigung mit Bakunin zu schaffen: Neben den bekannteren Werken sollen auch schwer zugängliche oder in deutscher Sprache unveröffentlichte Texte herausgebracht werden.
Bakunins Ideen gehören zu den prägnantesten Zeugnissen des antiautoritären Sozialismus. Seine Werke hat er jedoch nicht als abstrakte Gedankenkonstruktionen verfaßt, sondern in der intensiven Auseinandersetzung mit seiner Zeit und im Zusammenhang mit seiner revolutionären Tätigkeit. Somit ist die Kenntnis seiner Biografie zum Verständnis seines Werkes von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Dem historischen Hintergrund der Texte wird daher in den ›Ausgewählten Schriften‹ große Aufmerksamkeit gewidmet werden: Neben einem Anhang mit Dokumenten, die Bezug zu den jeweils veröffentlichten Schriften Bakunins haben, wird jeder Band eine ausführliche Einleitung erhalten, die zu einer Aufklärung des historischen und politischen Umfelds beitragen soll. Da in verschiedenen Sprachen bereits einige ausgezeichnete Studien und Abhandlungen zu bestimmten Themen und Abschnitten von Bakunins Biografie vorliegen, werden einige davon in den betreffenden Bänden der ›Ausgewählten Schriften‹ als Einleitung verwandt werden.
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1 Vgl. Wolfgang Eckhardt: Michail A. Bakunin (1814-1876). Bibliografie der Primär- und Sekundärliteratur in deutscher Sprache. Libertad Verlag, Berlin, Köln 1994, Einleitung S. 7-23.
2 Michael Bakunin: Gesammelte Werke. 3 Bände. Verlag ›Der Syndikalist‹, Berlin 1921-1924.
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Nahezu ein Jahrhundert ist es her, seit Michael Bakunin das Werk verfaßt hat, das seine meistgerühmte Broschüre werden sollte: ›Gott und der Staat‹. Zu dieser Zeit trat der Anarchismus als gewichtigere Kraft innerhalb der revolutionären Bewegung auf die Bildfläche, und der Name Bakunins, seines herausragenden Streiters und Propheten, war unter den Arbeitern und den radikalen Intellektuellen Europas ebenso bekannt wie der von Karl Marx, mit dem er um die führende Rolle innerhalb der Ersten Internationale stritt.
Im Gegensatz zu Marx hatte sich Bakunin seinen Ruf hauptsächlich als ein Aktivist denn als Theoretiker der Rebellion erworben. Er wurde 1814 in den russischen Landadel hineingeboren, aber schon als junger Mann schlug er die Offizierskarriere aus und verzichtete auf sein adliges Erbe zugunsten einer Laufbahn als Berufsrevolutionär. Im Alter von 26 Jahren verließ er 1840 Rußland und widmete fortan sein Leben dem Kampf gegen die Tyrannei in allen ihren Formen. Er gehörte nicht zu denen, die gerne in Bibliotheken sitzen und über vorherbestimmte Revolutionen forschen und schreiben. In die Aufstände von 1848 stürzte er sich mit ungeduldigem Tatendrang und wildem Enthusiasmus – wie eine Prometheus-Gestalt, die sich von Paris bis zu den Barrikaden in Österreich und Deutschland vom Wellenschlag der Revolte tragen ließ. Menschen wie Bakunin, hat ein Mitstreiter einmal bemerkt, wachsen im Sturme und reifen besser im Ungewitter als im Sonnenschein
.1 Seine Verhaftung während des Dresdner Aufstandes von 1849 bereitete seiner fieberhaften revolutionären Aktivität aber ein jähes Ende. Die folgenden acht Jahre verbrachte er im Gefängnis, davon sechs Jahre in den dunkelsten Kerkern des zaristischen Rußlands, und als er entlassen wurde, nachdem sein Urteil in lebenslängliche Verbannung nach Sibirien geändert worden war, hatte er infolge von Skorbut alle Zähne verloren und befand sich gesundheitlich in schlimmer Verfassung. Im Jahre 1861 entkam er jedoch seinen Bewachern in einer aufsehenerregenden Odyssee per Schiff, die ihn um den ganzen Erdball führte und seinen Namen zur Legende und zum Gegenstand der Verehrung in den radikalen Gruppen ganz Europas werden ließ.
Als romantischer Rebell und aktive Kraft in der Geschichte verfügte Bakunin über eine persönliche Anziehungskraft, mit der Marx als Rivale niemals mithalten konnte. Alles war an ihm kolossal
, erinnerte sich der Komponist Richard Wagner, ein Mitstreiter des Dresdner Aufstandes, mit einer auf primitive Frische deutenden Wucht
.2 Bakunins Liebe zu phantastischen, zu ungewöhnlichen, unerhörten Abenteuern, die grenzenlose Horizonte eröffnen
,3 um seine eigenen Worte zu benutzen, haben außergewöhnliche Träume bei anderen geweckt, und zum Zeitpunkt seines Todes 1876 hatte er eine einzigartige Position unter den Abenteurern und Märtyrern der revolutionären Überlieferung erlangt. Sein allumfassender Großmut und sein jugendlicher Enthusiasmus, seine brennende Leidenschaft für Freiheit und Gleichheit, seine vulkanischen Attacken gegen Privilegien und Ungerechtigkeit – all das verlieh ihm eine außergewöhnlich hohe Anziehungskraft in den libertären Zirkeln seiner Zeit.
Bakunin war jedoch, wie seine Kritiker nie müde wurden zu betonen, kein systematischer Denker, und dies hat er auch nie beansprucht. Denn er sah sich selbst als Revolutionär der Tat, nicht als Philosophen, und auch nicht als Erfinder von Systemen wie Marx
.4 Er weigerte sich, die Existenz vorausgedachter oder vorherbestimmter Gesetze der Geschichte anzuerkennen. Er lehnte jene Sicht der Dinge ab, nach der sozialer Wandel von der allmählichen schrittweisen Entwicklung objektiver
historischer Bedingungen abhänge. Er glaubte im Gegenteil, daß die Menschen sich ihre Bestimmung selbst geben und daß ihr Leben nicht in das Prokrustesbett abstrakter soziologischer Formeln gezwungen werden könne. Keine Theorie, kein fertiges System, kein geschriebenes Buch wird die Welt erlösen
, führte Bakunin aus, ich gehöre zu keinem System, – ich bin ein aufrichtig Suchender
.5 Indem er den Arbeitern Theorien beibringe, würde Marx – so Bakunin – nur erreichen, daß die revolutionäre Glut, die jeder Mensch von vornherein in sich trage, erstickt würde – nämlich der Trieb zur Freiheit, die Leidenschaft der Gleichheit, die heilige Empörung
.6 Im Gegensatz zu Marx’ wissenschaftlichem
Sozialismus entsprang Bakunins eigener Sozialismus, worauf er selbst immer bestand, nur aus dem Instinkt
.7
Bakunins Einfluß war demzufolge – wie Peter Kropotkin einmal bemerkt hat – eher der einer moralischen Persönlichkeit
8 als einer intellektuellen Autorität. Obwohl er erstaunlich viel schrieb, hinterließ er der Nachwelt kein einziges fertiges Buch. Ständig begann er neue Schriften, die – aufgrund seiner turbulenten Lebensweise – in der Mitte jäh abgebrochen und dann nie vollendet wurden. Sein schriftstellerisches Werk stellt nach den Worten Thomas Masaryks eine Fragmentensammlung
9 dar. Und dennoch – wie sprunghaft und unmethodisch seine Schriften auch sein mögen, sind sie nichtsdestoweniger ein wahres Feuerwerk an Einsichten, die auf die wichtigsten sozialen Fragen seiner Zeit – und der unseren – ein erhellendes Licht werfen.
›Gott und der Staat‹ ist dafür ein ganz hervorragendes Beispiel: Es erscheint unzusammenhängend, voller Wiederholungen, kaum strukturiert und mit vielen Abschweifungen und langen Fußnoten, die dahin tendieren, die eigentliche polemische Stoßrichtung abzuschwächen. Trotz allem erweist sich die Schrift als kraftvoll und energiegeladen, und sie ist mit einer ganzen Reihe von fesselnden Aphorismen gespickt, die von Bakunins bemerkenswerter intuitiver Veranlagung zeugen. Entsprechend wurde ›Gott und der Staat‹ das am meisten gelesene und am häufigsten zitierte aller Werke Bakunins. Aber der vielleicht wichtigste Grund für seine Popularität besteht darin, daß das Buch in lebendiger Sprache und bei verhältnismäßig kurzem Umfang die grundlegenden Bestandteile der anarchistischen Weltanschauung Bakunins darlegt.
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1 Zitiert nach Josef Pfitzner: Bakuninstudien. Verlag der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste für die Tschechoslowakische Republik, Prag 1932, S. 228 (Brief von Adolf Reichel an Bakunin vom 19. April 1850).
2 Richard Wagner: Mein Leben. Herausgegeben von Martin Gregor-Dellin. Paul List Verlag, München 1963, S. 451.
3 Michael Bakunins Beichte aus der Peter-Pauls-Festung an Zar Nikolaus I. Gefunden im Geheimschrank des Chefs der III. Abteilung der Kanzlei der früheren Zaren zu Leningrad. Herausgegeben von Kurt Kersten. Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin 1926, S. 47.
4 Jurij Steklov: Michail Aleksandrovič Bakunin. Band 3. Gosudarstvennoe izdatel’stvo, Moskau, Leningrad 1927, S. 112.
5 Brief vom 11. Mai 1850 an Mathilde Lindenberg geb. Reichel. In: Na čužoj storone. Istoriko-literaturnoje sborniki’, Berlin, Prag, 7. Jg., 1924, S. 243.
6 Michael Bakunin: Gesammelte Werke. Band 1. Verlag ›Der Syndikalist‹, Berlin 1921, S. 60.
7 Ebenda, Band 3, S. 211.
8 Unterhaltungen mit Bakunin. Herausgegeben von Arthur Lehning. Franz Greno, Nördlingen 1987, S. 419.
9 Thomas G. Masaryk: Zur russischen Geschichts- und Religionsphilosophie. Soziologische Skizzen. Band 2. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1913, S. 34.
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Vorrechte, jede bevorrechtete Stellung haben die Eigentümlichkeit, Geist und Herz der Menschen zu töten. Der politisch oder wirtschaftlich Bevorzugte ist geistig und moralisch minderwertig. Dieses soziale Gesetz kennt keine Ausnahme und paßt auf ganze Nationen wie auf Klassen, auf Körperschaften und auf Individuen. Es ist das Gesetz der Gleichheit, der höchsten Bedingung der Freiheit und Menschlichkeit. Der Hauptzweck dieses Buches ist, dasselbe zu entwickeln und seine Wahrheit in allen Äußerungen menschlichen Lebens zu zeigen.
Eine wissenschaftliche Körperschaft, welcher die Regierung der Gesellschaft anvertraut wäre, würde sich bald gar nicht mehr mit der Wissenschaft, sondern mit ganz anderen Dingen beschäftigen; sie würde, wie alle bestehenden Mächte, sich damit befassen, sich ewige Dauer zu verschaffen, indem sie die ihr anvertraute Gesellschaft immer dümmer und folglich ihrer Regierung und Leitung immer bedürftiger machen würde.
Was aber von wissenschaftlichen Akademien gilt, gilt in gleicher Weise von allen konstituierenden und gesetzgebenden Versammlungen, selbst den aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangenen. Letzteres mag zwar ihre Zusammensetzung erneuern, was aber nicht hindert, daß sich in wenigen Jahren eine Körperschaft von Politikern bildet, die tatsächlich, nicht rechtlich bevorrechtet sind und durch ihre ausschließliche Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten eines Landes eine Art politischer Aristokratie oder Oligarchie bilden. Ein Beispiel dafür sind die Vereinigten Staaten und die Schweiz.
Also keine Gesetzgebung von außen her und keine Autorität; beide sind voneinander unzertrennlich und führen zur Knechtung der Gesellschaft und zur Verdummung der Gesetzgeber selbst.
Folgt heraus, daß ich jede Autorität verwerfe? Dieser Gedanke liegt mir fern. Wenn es sich um Stiefel handelt, wende ich mich an die Autorität des Schusters; handelt es sich um ein Haus, einen Kanal oder eine Eisenbahn, so befrage ich die Autorität des Architekten oder des Ingenieurs. Für irgendeine Spezialwissenschaft wende ich mich an diesen oder jenen Gelehrten. Aber weder der Schuster, noch der Architekt oder der Gelehrte dürfen mir ihre Autorität aufzwingen. Ich höre sie frei und mit aller ihrer Intelligenz, ihrem Charakter, ihrem Wissen gebührenden Achtung an, behalte mir aber mein unbestreitbares Recht der Kritik und der Nachprüfung vor. Ich begnüge mich nicht, eine einzige Spezialautorität zu befragen, ich befrage mehrere, vergleiche ihre Meinungen und wähle die, die mir die richtigste zu sein scheint. Aber ich erkenne keine unfehlbare Autorität an, selbst nicht in ganz speziellen Fragen; folglich, welche Achtung ich auch immer für die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit einer Person habe, setze ich in niemanden unbedingten Glauben. Ein solcher Glaube wäre verhängnisvoll für meine Vernunft, meine Freiheit und den Erfolg meines Unternehmens, er würde mich sofort in einen dummen Sklaven und ein Werkzeug des Willens und der Interessen anderer verwandeln.
Wenn ich mich vor der Autorität von Spezialisten beuge und bereit bin, ihren Angaben und selbst ihrer Leitung in gewissem Grade und, solange es mir notwendig erscheint, zu folgen, tue ich das, weil diese Autorität mir von niemand aufgezwungen ist, nicht von den Menschen und nicht von Gott. Sonst würde ich sie mit Abscheu zurückweisen und ihre Ratschläge, ihre Leitung und ihre Wissenschaft zum Teufel jagen, in der Gewißheit, daß sie mich die Brocken menschlicher Wahrheit, die sie mir geben könnten, in viele Lügen eingehüllt, durch den Verlust meiner Freiheit und Würde bezahlen ließen.
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Einer von uns wird demnächst das Leben Michael Bakunins in allen seinen Einzelheiten erzählen, doch ist es uns in seinen Hauptzügen bereits hinlänglich bekannt. Freunde wie Feinde wissen, daß dieser Mann durch sein Denken, seinen Willen und seine ausdauernde Kraft Größe besaß; sie wissen auch, welch tiefe Verachtung er für Reichtum, Rang, Ruhm, all diese Erbärmlichkeiten empfand, die anzustreben die meisten Menschen niedrig genug sind. Er, ein russischer Adliger, der mit dem Hochadel des Zarenreiches verwandt war, gehörte zu den Ersten, die der stolzen Verbindung jener Empörer beitraten, die sich von Traditionen, Vorurteilen und Rassen- und Klasseninteressen zu lösen vermochten und die ihr eigenes Wohlbefinden gering schätzten. Gemeinsam mit ihnen schlug er die harte Schlacht des Lebens, die durch Gefängnis und Exil, durch all die Gefahren und Bitterkeiten verschärft wurde, die opferbereite Menschen in ihrem sturmgepeitschten Dasein zu erleiden haben.
Ein einfacher Stein und ein Name bezeichnen im Friedhof zu Bern die Stelle, wo Bakunins sterbliche Hülle ruht. Vielleicht ist selbst das zuviel, um das Andenken eines Kämpfers zu ehren, der Nichtigkeiten dieser Art so wenig Wert beimaß! Seine Freunde werden ihm gewiß weder prächtige Gruft noch Standbild errichten. Sie wissen, mit welch lautem Gelächter er sie bedacht hätte, hätten sie ihm von einem zu seinem Ruhm aufgestellten Grabdenkmal gesprochen, sie wissen auch, daß die wahre Art, ihre Toten zu ehren, die Weiterführung deren Werkes ist – mit der ganzen Glut und Beharrlichkeit, die diese selbst darauf verwandten. Gewiß eine schwierige Aufgabe, die uns jede Anstrengung abverlangt; denn unter den Revolutionären der erlöschenden Generation befindet sich nicht ein einziger, der mit mehr Eifer für die gemeinsame Sache der Revolution gestritten hätte. [...]
Die Regierung durch die Wissenschaft ist ebenso unmöglich, wie es die durch göttliches Recht, durch Dukaten oder brutale Gewalt ist. Jegliche Macht ist künftig erbarmungsloser Kritik unterworfen. Menschen, bei denen das Gefühl der Gleichheit aufkeimte, lassen sich nicht mehr regieren, sie lernen, sich selbst zu regieren. Indem sie denjenigen vom Himmelsthron stürzen, von dem alle Macht auszugehen schien, fegen die Gesellschaften auch all jene hinweg, die in seinem Namen herrschten. Dergestalt ist die Revolution, die sich vollzieht. Die Staaten zerfallen, um einer neuen Ordnung Platz zu machen, in der, wie Bakunin zu sagen liebte, die menschliche Gerechtigkeit an die Stelle der göttlichen Gerechtigkeit treten wird
. Wenn man den Namen eines jener Revolutionäre anführen will, die zu diesem ungeheuren Erneuerungswerk beigetragen haben, dann gibt es keinen, den wir mit größerer Berechtigung nennen könnten, als den Michael Bakunins.