Herausgegeben von Wolfgang Eckhardt
1. Auflage.
Karin Kramer Verlag, Berlin 1996
144 S.
In seiner Broschüre ›Russische Zustände. Ein Bild aus der Jetztzeit‹, die heute weltweit nur noch in wenigen Exemplaren existiert, unternimmt Bakunin eine radikale Kritik an den Verhältnissen in Rußland. Er verwandelt vor den Augen des europäischen Publikums den Zarismus vom gefürchteten Gendarm Europas
zum Koloß, der auf tönernen Füßen steht. Der Zar sei nicht nur durch Korruption und Mißwirtschaft, sondern auch durch permanente Revolten von Bauern und religiösen Sektierern bedroht, die alle darin übereinstimmen, die jetzige Ordnung der Dinge zu verwerfen und die Herrschaft des Zaren als das Reich des Antichrist anzusehen
. Die Tage des Zaren, prophezeit daher Bakunin, sind gezählt, Widerstand wird zur Pflicht – denn: Wo das Bestehende eine wohl organisierte Unsittlichkeit ist, da ist jede Empörung eine sittliche Tat
.
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, schrieb Alexander Herzen kurz nach Erscheinen der Erstausgabe, sie ist wunderbar.
Die ›Russischen Zustände‹ erscheinen in vorliegender Ausgabe erstmals seit 1849 wieder in der deutschen Originalfassung und werden ergänzt durch eine Einleitung von Boris Nikolaevskij und einen detaillierten Anmerkungsapparat.
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Einleitung von Boris Nikolaevskij (Erstübersetzung aus dem Russischen von Bas Moreel)
Bakunin: Russische Zustände (erste Ausgabe der deutschen Originalfassung seit 1849)
Anhang: Ferdinand Kürnberger: Der Russe Bakunin (1851)
Anmerkungen
Personen- und Periodika-Register
Daß die ›Russischen Zustände‹ zum Teil auf früheren Texten Bakunins aufbauen, ist auch den Zeitgenossen aufgefallen. So schrieb etwa Ivan G. Golovin in einer biographischen Skizze über Bakunin im Jahre 1853: Seine Broschüre Russische Tustände [Zustände] ist im gleichen Stil geschrieben wie seine Artikel in Constitutionnel und Réforme zu demselben Thema, die jeden russischen Aristokraten und jeden russischen Funktionär empört haben.
9 Dasselbe könnte auch von den übrigen Schriften Bakunins aus den Jahren 1847-1849 gesagt werden,10 die ebenfalls Parallelstellen zu den ›Russischen Zuständen‹ enthalten: Auch sie lassen an revolutionärer Schärfe wenig zu wünschen übrig. Noch in sächsischer Haft (Anfang 1850 auf der Festung Königstein) hat Bakunin in einem Manuskript folgende Stellungnahme zu den Verhältnissen in Rußland abgegeben:
Wie groß aber auch die Veränderung sein mag, welche in Deutschland seit 1848 vorgegangen, wird es doch erlaubt sein, selbst wenn man in einer deutschen Festung sitzt, zu sagen, daß man die Freiheit liebt und den Despotismus haßt. – Nirgends gedeihen diese beide[n] Gefühle so stark wie in Russland, wo die Freiheit fast wie ein unerreichbares Jenseits erscheint und nur die niederdrückendste Tyranney, die Sclaverei in ihrer crassesten Gestalt die Wirklichkeit ist. Man mag in andern Länder[n] das Recht zu Revolutionen bestreiten, in Russland steht dieses Recht außer Frage. Wo das Bestehende eine wohl organisirte Unsittlichkeit ist, da ist jede Empörung eine sittliche That [...]. Eine Bauernrevolution in Russland wird der Regierung einen tödtlichen Streich versetzen, wird diesen Staat zertrümmern, und eine solche [Revolution] ist unvermeidlich.
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Wie begründet aber Bakunins radikale Vision einer bevorstehenden Umwälzung in Rußland gewesen ist, ist bis heute umstritten. Der russische Historiker B. A. Evreinov zum Beispiel hielt Bakunins Darstellung der explosiven innenpolitischen Zustände in Rußland für reinen Zweckoptimismus, dem er am Ende selbst erlag:
[...] trotz seiner mangelhaften Kenntnisse über Rußland mußte Bakunin ganz einfach wissen [...], daß die Revolution in Rußland eine Angelegenheit der fernen Zukunft sein würde. Momentane taktische Erwägungen machten es aber erforderlich, bei den anderen den Glauben an eine bevorstehende Revolution in Rußland zu erwecken. Aber Bakunin hat sich an diesem Glauben selbst berauscht. Eine spontane, gewaltige Revolution der untersten Volksmassen entstand immer wieder vor seinem geistigen Auge, wobei er Mittel und Wege der künftigen revolutionären Explosion richtig voraussagte. Darin besteht die zweite Seite des Problems. Im Verlauf des gesamten 19. Jahrhunderts gab es eine Menge Prophezeihungen einer künftigen Umwälzung in Rußland, aber Bakunins Voraussage ist eine der klarsten, überzeugendsten und vollständigsten.
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Aber nicht nur im Licht der zukünftigen Entwicklung erscheint Bakunins Darstellung als begründet und folgerichtig. Von revolutionären Gärungen in Rußland zeigte sich damals nicht nur Bakunin überzeugt – auch die russische Regierung glaubte daran. In Geheimberichten aus den 1830er und 40er Jahren kamen die zaristischen Behörden zu durchaus vergleichbaren Schlüssen, die Bakunins Darstellung geradezu untermauern: Überhaupt ist die Leibeigenschaft
, schrieb etwa der Chef der Geheimpolizei Graf Benkendorf in seinem Jahresbericht für 1839, eine Pulverkammer unter dem Staat und um so gefährlicher, als die Armee aus Bauern besteht und sich heute eine ungeheure Masse von grundbesitzlosen Adligen aus Beamten zusammensetzt, die vom Ehrgeiz getrieben sind und, da sie nichts mehr zu verlieren haben, sich über jede Verwirrung freuen.
13 Und in einem Memorandum des Innenministers aus dem Jahre 1846 heißt es, daß sich die Bauern die Freiheit als vollständige Anarchie
, Abschaffung eines jeglichen Gehorsams
und als Befreiung von jeglichen Leistungen mit Übereignung des Landes vorstellten – unsinnige und entsetzliche Auffassungen
also, wie eilig hinzugefügt wurde.14 So nimmt eine im Jahre 1961 veröffentlichte Statistik nicht wunder, nach der sich in den Jahren 1826-1850 insgesamt 1.904 Proteste von Bauern ereignet haben, von denen sich 1.059 zu Unruhen
ausweiteten – angefangen von lokalen Revolten bis hin zu Massenaufständen, die ganze Distrikte erfaßten. In 381 Fällen mußte gegen aufständische Bauern reguläres Militär eingesetzt werden, das ist im Durchschnitt mehr als 15 mal jährlich.15 Bakunin hatte in den ›Russischen Zuständen‹ von Bauernaufständen in Permanenz
gesprochen: Jedes Jahr gebährt ihrer ein Dutzend in den verschiedensten Kreisen
.
Und über die Stimmung unter den Soldaten, die nach Bakunin nur mit Unlust an den Krieg denken
, gibt folgender Agentenbericht aus dem Jahre 1848 Auskunft, der auch dem Zaren vorgelegt wurde:
Der gemeine Soldat Aleksandr Ivanov Filipov, Jahresurlauber aus dem Grenadierregiment Fürst Suvorov, äußerte in einer Kneipe, wo er mit anderen Reservisten zusammengekommen war, daß der Kaiser uns zwar auffordert, zu den Bajonetten zu greifen, aber wir werden ihm ... Worauf die übrigen antworteten – geschieht ihm ganz recht. Schimpfworte von allen begleiteten diese Äußerungen.
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9 [Ivan G. Golovin:] ›Bakunin, the Russian Martyr‹. In: The Morning Advertiser, London, Nr. 19401, 27. August 1853, S. 3. – Golovin erwähnte die ›Russischen Zustände‹ auch in seinem Buch ›Rußland unter Alexander II.‹ (Verlag von Paul Frohberg, Leipzig o.J. [1870], S. 264), allerdings mit 1847
falsch datiert.
10 Unter anderem: 17e anniversaire de la révolution polonaise. Discours prononcé a la réunion tenue a Paris, pour célébrer cet anniversaire, le 29 novembre 1847, par M. Bakounine, réfugié russe. Au bureau des affaires polonaises, Paris 1847 (dt. Verlag von Heinrich Hoff, Mannheim 1848). – Aufruf an die Slaven. Von einem russischen Patrioten Michael Bakunin. Mitglied des Slavencongresses in Prag. Selbstverlag des Verfassers, Koethen 1848. – Aufruf an die Czechen. [Unterzeichnet:] Michael Bakunin, ein Russe und Mitglied des slavischen Kongresses in Prag. Ohne Verlag, o.O. [Leipzig] o.J. [1849]. – Bakunins Artikel in der Dresdner Zeitung, in Michael Bakunin: Ausgewählte Schriften. Herausgegeben von Wolfgang Eckhardt. Band 2: »Barrikadenwetter« und »Revolutionshimmel«. Artikel in der ›Dresdner Zeitung‹. Karin Kramer Verlag, Berlin 1995, S. 133-149.
11 Zitiert nach Václav Čejchan: Bakunin v Čechách. Příspěvek k revolučnímu hnutí českému v letech 1848-1849. S dvěma přílohami. Nákladem Vojenského archivu RČS, Prag 1928, S. 104, 117. – In diesem, ›Meine Vertheidigung‹ überschriebenen Manuskript finden sich ganze Passagen, die nahezu wörtlich in den ›Russischen Zuständen‹ wiederzufinden sind.
12 B. A. Evreinov: Poslednij etap slavjanskoj dejatel’nosti Bakunina. In: Naučnye trudy Russkago narodnago univesiteta v Prage, Prag, Band 5, 1933, S. 98-109, hier S. 109.
13 Zitiert nach A. S. Nifontow: Rußland im Jahre 1848. Rütten und Loening, Berlin 1954, S. 21.
14 Zitiert nach Valentin I. Neupokoev: Die Bauernbewegung in Rußland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Klassenkampf und revolutionäre Bewegung in der Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution. Studien und Aufsätze. Akademie-Verlag, Berlin 1977, S. 123-136, hier S. 125.
15 Vgl. Krest’janskoe dviženie v Rossii v 1826-1849 gg. Sbornik dokumentov. Izdatel’stvo social’no-ekonomičeskoj literatury, Moskau 1961, S. 817.
16 Zitiert nach Nifontow, a.a.O. (Anm. 13), S. 132.
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In Bakunins Aussagen während der Verhöre durch die sächsische Untersuchungskommission gibt es eine für uns äußerst interessante Stelle, bei der Bakunin angibt, daß er zu Beginn seines Aufenthalts in Leipzig, d.h. im Januar 1849, begonnen hatte eine größere Schrift zur politischen Lage in Rußland vorzubereiten
.14 Auf diese Schrift Bakunins gibt es, soweit mir bekannt, keine weiteren Hinweise in der Literatur. Daß sich Bakunin mit diesem Thema beschäftigt hat, haben sicher schon viele vermutet, die jene Manuskripte gelesen haben, die Bakunin bei seiner Verhaftung abgenommen worden waren. Vjaceslav P. Polonskij hat diese Manuskripte in seinen ›Materialy‹ unter dem allgemeinen Titel ›Revolution, Rußland und die slawische Welt‹ zusammen herausgegeben; ein Teil dieser Manuskriptfragmente besteht jedenfalls aus ganz neuen, noch unbearbeiteten Notizen für die damals von Bakunin geplante größere
(als der Aufruf an die ›Slaven‹) Schrift zur politischen Lage Rußlands
. Wie ausführlich Bakunin dieses Thema damals behandeln wollte, zeigt die Tatsache, daß sich unter seinen Papieren ein besonderes – wie Polonskij schreibt: umfangreiches
– Manuskript eines unbekannten Verfassers befindet zum speziellen Thema des russischen Gerichtswesens; jetzt erscheint es kaum noch zweifelhaft, daß dieses Manuskript von jemandem verfaßt wurde als Material für die damals von Bakunin geplante Schrift.15
Bakunin scheint sich nirgends darüber geäußert zu haben, warum er diese Schrift in Angriff nehmen wollte; seine Motive liegen aber auf der Hand. Den Gedanken, ein Buch über Rußland zu veröffentlichen, hegte er bereits seit langem. Schon Anfang 1843 in der Schweiz stand er kurz davor, mit dieser Arbeit anzufangen. In den Jahren 1848-1849 mußte ihm dieses Thema aber ganz besonders dringlich scheinen, nachdem er mit seiner Pariser Rede vom 29. November 1847 und besonders mit seinem ›Aufruf an die Slaven‹ im Dezember 1848 vor das revolutionäre Europa getreten war und auf die Möglichkeit einer Revolution in Rußland hingewiesen hatte. Mit diesen Äußerungen der Jahre 1848-1849 bekundete er zunächst nur seinen Glauben an eine russische Revolution; die große Schrift
mußte aber unmißverständlich seine revolutionären Anschauungen begründen, ihnen ein aus Tatsachen bestehendes Fundament geben.
Leider hat Bakunin diese Arbeit nicht abgeschlossen – wie er in seinen oben genannten Aussagen vor der Untersuchungskommission äußerte, war er damit überhaupt nur sehr wenig vorangekommen, weil ihn andere Umstände und Fragen von der begonnenen Arbeit ablenkten – aus denselben Aussagen wissen wir, daß er die Arbeit abbrach, um einen Brief an die Zeitschrift Karel Sabinas zu schreiben als Antwort auf Angriffe der tschechischen und deutsch-tschechischen Presse gegen seinen ›Aufruf an die Slaven‹. Aber auch dieser Brief wurde nicht fertiggeschrieben: Bakunin wurde davon weggerissen durch den Einmarsch russischer Truppen in Siebenbürgen, auf den er mit seinem ›Aufruf an die Czechen‹ reagierte – dieser wurde unlängst von Polonskij unter dem Titel ›Zweiter Aufruf an die Slawen‹ veröffentlicht –, um sich danach Hals über Kopf in die organisatorisch-agitatorische Vorbereitungsarbeit für einen Aufstand in Böhmen zu stürzen.
Unter diesen Umständen hatte er natürlich keine Lust, eine große Schrift
über Rußland zu schreiben – Bakunin nahm die Arbeit dann auch nicht wieder auf. Dennoch spricht er bewußt nicht die ganze Wahrheit, wenn er in seinen Aussagen behauptet, er habe nichts davon veröffentlicht
: Die Bedürfnisse der laufenden politischen Agitation zwangen ihn im April 1849 das Thema der Lage in Rußland wieder aufzunehmen; in dieser Zeit schrieb er – oder wahrscheinlicher: diktierte er – eine Reihe von Zeitungsartikeln zu diesem Thema, die später als eigenständige Broschüre unter dem Titel ›Russische Zustände‹ veröffentlicht wurden, und es steht außer Zweifel, daß diese Artikel, bei all ihrer Unfertigkeit und Flüchtigkeit, eine genügend vollständige Einführung in den Ideenkreis abgeben, den er in seiner nicht geschriebenen großen Schrift
über Rußland darstellen wollte. Dies macht die Broschüre zu einem höchst wertvollen und wichtigen Dokument, das fortan kein Bakuninbiograph mehr außer Acht lassen kann.
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14 V. P. Polonskij (Hrsg.): Bakunin i Drezdenskoe vosstanie. In: Krasnyj archiv, Moskau, Leningrad, Band 27, 1928, S. 169.
15 Dieses Manuskript ist uns durch Auszüge bekannt geworden, die Polonskij veröffentlicht hat in seinen Kommentaren zu ›Materialy dlja biografii M. Bakunina‹, Band I, Moskau, Petrograd 1923, S. 399-400. Es wäre sehr wichtig, den Autor dieses Manuskripts festzustellen, da dies einen höchst wertvollen Hinweis für die Erforschung von Bakunins russischen Kontakten in den Jahren 1848-1849 ergeben könnte.
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Vom russischen Volke hat das Ausland noch gar keine oder nur ziemlich irrige Vorstellungen, gewöhnlich gilt es als ein roher, bewußt- und willenloser Haufen, als eine Masse von Nullen, die der zarischen Eins angehängt, dieser eine imposante Stellung geben. Das ist eine ganz falsche Idee, das russische Volk ist gar nicht so identisch, so einmüthig mit dem Kaiser, als dieser und seine bezahlten Journalisten russischer, deutscher und französischer Zunge es der Welt glauben machen möchten. Es ist die gröbste Lüge, wenn man liest, daß jeden Morgen 65 Millionen Menschen für den Zaren beten, oder daß ein kaiserlicher Befehl von der Weichsel bis zum stillen Ozean unbedingte Geltung habe; es denkt Niemand daran, und der Zar weiß das am besten. Das russische Volk, das ackerbauende wie handel- und gewerbetreibende, leibeigene, sogenannte schwarze Volk ist in mehr als 200 religiöse Sekten+42 gespalten, die alle einen politischen Charakter tragen, alle darin übereinstimmen, die jetzige Ordnung der Dinge zu verwerfen und die Herrschaft des Zaren als das Reich des Antichrist anzusehen. Diese Sekten, manche sogar kommunistischer Natur mit Güter- und Weibergemeinschaft, sind durch das ganze Reich bis zum Ural verbreitet und sehr gedrückt, aber desto fanatischer. Katharina II.+43 verfolgte sie so hart, daß manche Gemeinden ihre Dörfer anzündeten und sich mit Weib und Kind in die Flammen stürzten, nur um der orthodoxen Staatskirche und den Ukasen der Zarin sich nicht zu unterwerfen. Alexander [I.]+44 ließ diese Dissidenten ziemlich in Ruhe bis auf seine letzten Regierungsjahre; Nikolaus [I.], der es mit den Pfaffen aus Berechnung hält und den frömmsten Mann seines Reiches öffentlich heuchelt, verfolgt sie wieder mit Härte; so hat er namentlich Tausende von Familien aus der Sekte der Duchoborzen+45 aus dem östlichen, mittlern und südlichen Rußland in die Steppen Sibiriens, in die rauhen Berge Imerethiens verstoßen, ohne sie doch zur Verleugnung ihres Glaubens zu bewegen, ohne dadurch etwas anderes zu bewirken, als die Propaganda dieser Sekten noch fanatischer, noch wirkungsreicher zu machen. Welcher Haß gegen die Staatskirche in diesen Sektirern lebt, dafür nur ein Beispiel. Ein junger Duchoborze (welche Sekte gar keine Autorität anerkennt) reiste im Jahre 1839 zweihundert Meilen weit, natürlich zu Fuß, nach Petersburg, nur um dem Metropoliten, dem Oberhaupte der Staatskirche – eine Ohrfeige zu geben.+46 Und solcher Beispiele wie Entweihung des Abendmahls, indem der Sektirer in die ihm feindliche Kirche springt und den Hostienteller bespukt, giebt es eine Unzahl. Man urtheile nun, ob wirklich das russische Volk in der Allgemeinheit im Zaren den Stellvertreter Gottes erblickt!
Das gesammte Volk aber, Orthodoxe und Sektirer, ist einig und eng verbunden durch einen alle gleichmäßig treffenden Umstand, durch die Unfreiheit, durch die Knechtung, in der sie sich befinden, durch das Streben, aus ihr herauszukommen. Man glaube ja nicht, daß der Bauer nicht wisse, daß ihm ein besseres, menschenwürdigeres Loos gebühre, daß ihm eigentlich der Boden gehöre, den er bebaut im Namen des Kaisers, des Staates oder seines Herrn; die Bunts, die Aufstände, sind der deutlichste Beweis für die soziale Gährung in Rußland, die weiter vorgeschritten ist, als das Ausland träumt, das nur die mit kaiserlichen Farben übertünchte Oberfläche sieht.
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+42 Diese Angabe findet sich bereits bei August von Haxthausen (Studien über die innern Zustände Rußlands, a.a.O. (Anm. +3), Band I, S. 347) unter Berufung auf eine nicht näher bezeichnete Publikation des Erzbischof Dimitrij von Rostow.
+43 Katharina II., »die Große« (1729-1796, Zarin seit 1762).
+44 Alexander I. (1777-1825, Zar seit 1801).
+45 Duchoborzen (»Kämpfer für den Geist«), im 18. Jahrhundert in Rußland entstandene christliche Sekte, die die traditionelle kirchliche Organisation mit ihren Priestern, Gottesdiensten und Sakramenten ablehnt. Ihre Mitglieder verwerfen die kirchliche Lehre von der Dreieinigkeit und der Gottheit Christi, leisten weder einen Eid noch Kriegsdienste. Sie berufen sich darauf, daß der Heilige Geist jedem Menschen innewohne und leiten daraus eine strenge Ethik ab. 1844/45 wurden in Südrußland gelegene Kolonien der Duchoborzen in den Kaukasus umgesiedelt (Bakunin bezieht sich auf die Region Imerethien nordöstlich von Tiflis). Unter Vermittlung von Lev N. Tolstoj konnte in den Jahren 1888/89 ein Großteil der Duchoborzen nach Kanada auswandern.
+46 In dem ›Meine Vertheidigung‹ überschriebenen Manuskript, das Bakunin im Frühjahr 1850 in sächsischer Haft auf der Festung Königstein für seinen Verteidiger Franz Otto verfaßt hat, befinden sich ebenfalls eine Reihe von Hinweisen auf die innenpolitische Situation in Rußland. Dabei ergeben sich häufig Überschneidungen mit der bereits im Jahr zuvor erschienenen Broschüre ›Russische Zustände‹, so daß beide Texte stellenweise parallel gelesen werden können (vgl. auch Nikolaevskij in vorliegendem Band, S. 47-48). Über den in vorliegendem Text erwähnten Vorfall schrieb Bakunin in ›Meine Vertheidigung‹: Um Ihnen zu zeigen, von welcher Energie die Sectären [Sektierer] in Russland beseelt sind, will ich Ihnen nur einen einzigen Fall erzählen, welcher in 1838, während meiner Anwesenheit in Petersburg, vorfiel. Ein junger Bauer kam zu Fuß aus einem der entferntesten Gouvernements in die Hauptstadt in keiner anderen Absicht, als dem dortigen Metropoliten eine Ohrfeige zu geben. Er wußte sehr wohl, was für eine grausame Straffe ihn dafür erwartete [...].
(Zitiert nach Václav Čejchan: Bakunin v Čechách. Příspěvek k revolučnímu hnutí českému v letech 1848-1849. S dvěma přílohami. Nákladem Vojenského archivu RČS, Prag 1928, S. 110)